Darf ein Mitgliedsstaat bei steuerrechtlichen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs deren Rückwirkung mit Rücksicht auf den Staatshaushalt zeitlich begrenzen? Der EuGH hat im Urteil zum Fall "Meilicke" (C-292/04 vom 6.3.2007) vor einigen Monaten ein solches Ansinnen der Bundesrepublik Deutschland abgewiesen, dabei aber gewisse Ausnahmen für zukünftige Fälle definiert. Die Entscheidung wurde in Berlin mit Ärger aufgenommen, lässt aber Wege offen, mit solchen Situationen umzugehen, meint der deutsche Steuerrechtler Roman Seer von der Universität Bochum im STANDARD-Gespräch.

Budgetloch droht

Im Fall Meilicke ging es um das deutsche Anrechnungsverfahren für die Körperschaftssteuer, das bis 2000 in Kraft war. Demnach war der Anspruch auf eine Steuergutschrift für Dividenden aus dem Ausland ausgeschlossen. Als EuGH-Entscheidungen zu Fällen aus anderen EU-Staaten offensichtlich machten, dass diese diskriminierende Regelung nicht halten wird, hat es die Bundesrepublik von sich aus geändert. Bei den rund 100.000 offenen Fällen aber wollte die Regierung eine Rückzahlung vermeiden, weil dies dem Fiskus angeblich fünf Mrd. Euro kosten würde.

Voraussetzung für eine solche Begrenzung aber seien umfangreiche Folgen für den Staatshaushalt, eine unklare Rechtslage, die von der EU-Kommission mit hervorgerufen wurde, und eine Beteiligung des Landes am ersten relevanten EuGH-Verfahren, entschieden die Richter. Zumindest den dritten Punkt hat Deutschland im finnischen Fall "Manninen" (C-213/02 vom 7.9.04) versäumt.

Seer, der an einem Steuerseminar des Instituts für Österreichisches und Internationales Steuerrecht an der WU Wien und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PriceWaterhouseCoopers (PwC) in Wien teilnahm, hält die Position für grundsätzlich richtig. Denn auch das deutsche Bundesverfassungsgericht würde, anders als der österreichische VfGH, stets auf die Rückwirkung seiner Urteile bestehen. Dies sei zu begrüßen, weil es helfe, leichtfertige Rechtsverstöße abzuschrecken.

Aber Seer weißt darauf hin, dass der EuGH Verfahrensfragen den Nationalstaaten überlässt. "Könnte man ein Gesetz erlassen, um die Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen zeitlich auf zwei, drei oder vier Jahre zu begrenzen?", stellt er zur Debatte. Dadurch würde sich der Staat ersparen, alle relevanten Fälle ständig zu verfolgen. Dies wäre auch für Österreich von Interesse, das gelegentlich mit der Rückwirkung von Steuerentscheidungen zu kämpfen hat. Doch die Frage müsse erst vor dem EuGH ausjudiziert werden.

Der WU-Steuerrechtler Michael Lang hegt jedoch Zweifel: "Wenn es gelingt, eine allgemeine Regelung zu formulieren, die auch den Rechtsschutz sicherstellt, wäre dies vielleicht möglich. Aber der Teufel liegt im Detail." (Eric Frey, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.11.2007)