Altkanzler Wolfgang Schüssel in seinem Büro im Parlament vor einem Pongratz-Bild, dem Entwurf für den "Austrokoffer"

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STANDARD: Schon vor zweieinhalb Jahren hat der Nationalrat, damals ohne große Aus_einandersetzung, den EU-Verfassungsvertrag beschlossen. Warum ist die Europäische Union heute mehr umstritten als damals?

Schüssel: Das Zustandekommen des Verfassungsvertrags war so etwas wie eine romantische Idee, so wie die Frankfurter Paulskirche 1848: Da kam ein europäischer Konvent zusammen, da sind viele der erträumten Symbole hereingekommen: der Name „Verfassung“, obwohl es keine war, die Flagge, die Hymne, der Euro. Der Vorrang des europäischen Rechts. Das war ein romantischer Traum, da wollten manche ein Europa, das einem Bundesstaat gleichkäme, mit europäischer Regierung, europäischer Armee, einer europäischen Verfassung. Dann kamen Referenden in Frankreich und Holland, die von ganz anderen Themen wie der „polnische Installateur“ oder innenpolitische Fragen dominiert wurden – heute redet _niemand mehr von der unter österreichischer Präsidentschaft entschärften Dienstleistungsrichtlinie.

STANDARD: Jetzt ist man viel pragmatischer – und es gibt dennoch mehr Widerstand, zumindest bei uns in Österreich.

Schüssel: Die romantischen Symbole sind weg, was ich schade finde, denn geblieben ist davon einzig das Geld, die Monetarisierung der Europafrage. Aber es ist so. Es ist ein nüchternerer Zugang.

STANDARD: Emotional ist Europa in Österreich unten durch. Wo hat da die Politik versagt?

Schüssel: Ich glaube nicht, dass die Politik versagt hat. Die österreichische Präsidentschaft war ein absoluter Höhepunkt, da ist sehr viel berichtet worden, sehr viel informiert worden – und je besser die Menschen informiert sind, desto höher ist die Zustimmung zum Vertrag. Und man muss sehen: In Umfragen sind bei der Frage „Sollen wir austreten oder drinnen bleiben?“ zwei Drittel dafür, dass wir in der EU bleiben.

STANDARD: Da müsste die Regierung eine Volksabstimmung, wie sie die FPÖ verlangt, ja nicht fürchten?

Schüssel: Hier geht es darum, ob die repräsentative Demokratie auf einmal nicht mehr gut genug ist, wichtige Entscheidungen zu treffen. Wenn man abstreitet, dass gewählte Abgeordnete über so einen Vertrag abstimmen können, wieso würde man ihnen dann vertrauen, über Steuergesetze, über Pensionsreformen, über Schulreformen abzustimmen?_Es wird das zur prinzipiellen Frage, ob man der parlamentarischen Demokratie vertraut.

STANDARD: Keine EU-Abstimmung – aber über die Gesamtschule an einzelnen Schulstandorten abstimmen, das ja?

Schüssel: Da geht es um die direkte Betroffenheit – die Eltern haben eine Wahlfreiheit, sie suchen die Schule ihrer Kinder aus. Ich schicke meine beiden Kinder ins öffentliche Schulsystem – andere, vor allem von der linken Reichshälfte, schicken ihre Kinder in Privatschulen. Da ist die Mitbestimmung der Schulpartner, die in den Siebzigerjahren auf Wunsch der SPÖ eingeführt wurde, ganz legitim.

STANDARD: Sie implizieren aber, dass Europa die Menschen nicht direkt betrifft?

Schüssel: Das ist auch so – weil nämlich in Teilbereichen verschiedene Dinge erst umgesetzt werden müssen. Es gibt aber im Verfassungsvertrag ganz neue bürgerfreundliche Regeln – etwa, dass erstmals jeder Bürger gegen die Kommission oder andere Institutionen der Union vorgehen kann. Man sollte also über die Inhalte reden.

STANDARD: Bitte sehr: Kritiker des Reformvertrages sagen, dass die EU künftig als einheitliche Macht auftritt, was der Neutralität wenig Platz lässt – und dass der Vertrag die EU militarisiert.

Schüssel: Ganz neu ist das nicht – wir haben 1998 unter österreichischer Präsidentschaft die Gemeinsame Außen-, Sicherheitspolitik und Verteidigungspolitik beschlossen. Auch am Tschad-Einsatz nehmen wir ja nicht nach dem neuen Vertrag, der hoffentlich 2009 in Kraft tritt, sondern aufgrund der bisherigen Verträge teil. Im Prinzip ist das genau das Modell, das alle, auch die Grünen, immer gewünscht haben. Der neue Vertrag geht darüber im Wesentlichen nicht hinaus. Aber: Die EU-Staaten betreiben knapp 40 Prozent des Militäraufwands, den die USA betreiben, aber sie erreichen nur fünf bis zehn Prozent der Schlagkraft. Das ist „wasted efficiency“. Wenn wir die Ziele besser abstimmen und effizienter werden, ist das keine Militarisierung.

STANDARD: Vielen Österreichern geht das aber zu weit. Sie meinen, in internationalen Operationen sollte das neutrale Österreich die Militärmusik oder allenfalls ein Sanitätskontingent einbringen.

Schüssel: Das clevere Trittbrettfahren war nie das Konzept der aktiven Außenpolitik. Wir haben seit dem UN-Beitritt immer eine aktive Neutralitätspolitik betrieben – da kommt man mit der Gulaschkanone nicht durch.

STANDARD: Und Sie selber? Gehen Sie als Klubobmann in Pension? Sie werden ja auch für EU-Spitzenjobs genannt ...

Schüssel: Es ist ehrenvoll, wenn einem die Befähigung für solche Funktionen nicht abgesprochen wird. Aber da bewirbt man sich nicht. An Pension denke ich noch nicht, nachdem wir aus Überzeugung das Pensionsantrittsalter erhöht haben. (Conrad Seidl/DER STANDARD, Printausgabe, 8.11.2007)