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Deborah Harry: "Necessary Evil" (Eleven Seven Music/Universal 2007)

Coverfoto: Eleven Seven Music
Ok, eines gleich vorneweg - wer hier eine distanzierte Bestandsaufnahme erwartet: Nix. Als dedicated follower of Debbie bin ich schon zu einem Nachwuchsband-Contest marschiert, bei dem die frisch wiedervereinigten Blondie als Stargäste auftraten, und hab Frau Harry bei ihrem Staatsopern-Auftritt mit den Jazz Passengers vom obersten Rang aus senkrecht auf den Mittelscheitel runtergestarrt. Trotz Höhenangst.

"Don't wanna make it easy, can't help but make you hard"

Für ihr fünftes und seit immerhin 14 Jahren erstes Solo-Album hat Debbie Harry Rock und Urbanität als Vorgaben angekündigt - und eine Freakshow. Und die Frau hält ihre Versprechen. Den Einstieg macht sie mit "Two Times Blue" allerdings noch sehr leicht: Einem schnellen Pop-Song, der melodisch an den 1999er Blondie-Comebackhit "Maria" erinnert und nicht von ungefähr - you can call me Miss Calculation - als erste Single ausgekoppelt wurde. "School for Scandal" hält den hohen Takt, immerhin wird hier Anlauf für ein 64-minütiges Album genommen, erst dann wird mit der Sixties-Ballade "If I had you", "Deep End" (schneidende Riffs treffen auf einen zuckersüßen Jinglejangle-Refrain) und dem von Percussion-Experimenten strotzenden "Love with a Vengeance" der Fuß vom Gas genommen.

Wenn Debbie Harry von urbanen Sounds spricht, meint sie damit eine Stilmixtur aus Rock, Dancepop und HipHop, wie sie seinerzeit schon Blondie - die übrigens als Band weiterbestehen und schon das nächste Album planen - zusammenbrauten, siehe etwa den 1981er Hit "Rapture". Eine Mixtur, die zudem - Klischee hin oder her - als New York-prototypisch wahrgenommen wird. Armand van Helden brachte diese Wahrnehmung 2004 mit seiner Compilation "New York: A Mix Odyssey" bestens auf den Punkt. Darauf vertreten waren auch Blondie - genauso wie sich Moby 2006 natürlich Debbie Harry als Gastsängerin für sein Stück "New York, New York" holte. Wer sonst könnte die Stimme der Stadt sein, wenn nicht das einstige Provinzmädchen aus New Jersey? - Naja, vielleicht noch Yoko Ono, aber außer mir hat die wohl nicht mehr so viele Fans.

Das funkige Titelstück des Albums greift diesen Sound jedenfalls in Reinkultur auf - und glänzt dazu mit einem kehlig geröhrten Mittelteil, den Debbie Harry noch immer keine andere Sängerin nachmachen könnte: Sex in a can, love in a jar / airtight container, just like a heart / you're an artificial climate keeping me warm. Wenn das nicht New Wave-Romantik pur ist.

"Hey, they say we're back for glory"

Das kurze Intermezzo "Charm Redux" bildet einen Vorgeschmack auf das spätere "Charm Alarm", nutzt die Klangwirkung der Worte als friedvolles Mantra und lässt den Hörer gänzlich unvorbereitet vom schnellsten und härtesten Punk-Stück des Albums niedergeknüppelt werden: "You're too hot", auf halsbrecherische Weise von Debbie eingeheult, läuft als wildes Gejamme voller vokaler Seltsamkeiten - a-uga-uga-uga - ab, bei dem alle Beteiligten hörbar den Uakoarl haben.

War "Necessary Evil" bislang eine modernisierte und aufgerauhte Ausgabe früherer Solo-Alben Harrys (etwa "Rockbird" 1986 oder "Def, Dumb & Blonde" 1989), dann liegt dies am Produzententeam Super Buddha (Charles Nieland und Barb Morrison), die unter anderem schon mit den Scissor Sisters den Spagat zwischen Vergangenheit und Jetzt wagten. Hier hatten sie eine inzwischen volle vier Jahrzehnte umspannende Musikkarriere unter einen Hut zu bringen. Am weitesten an die Gegenwart tasteten sie sich dabei mit einem fiepsigen R'n'B-Stück heran, das Rapperin Lil'Kim gewidmet ist. Climb up 'em asses, let the party begin / Grease your zipper, swat your fly / a whole in one, a big bull's eye: "Dirty and Deep".

Und eben noch in fetten Sounds und glitschigen Körperflüssigkeiten gesuhlt, schließt sich mit "What is Love" eine blütensaubere Liebesballade mit einem schmachtenden Refrain, wie man ihn sonst nur beim Song Contest zu hören bekommt, an; abgerundet mit - ist ja das reinste Panoptikum hier - Vocoder-Background und einem buddhistischen Brummgebet. Was nach dem nächsten Stilbruch geradezu schreit - und der folgt postwendend in Form eines wilden Maunzers von Debbie und dem zweiten Garagepunk-Kracher des Albums, "Whiteout": Die Nummer allein ist schon den Kauf wert, und den Synthesizer-Einsatz im Refrain hätte Jimmy Destri kein Jota anders gemacht. Grandios!

"The devil's dick is hard to handle"

"Needless to say" mündet faserschmeichlerisch-unauffällig in das nächste Stück eingefangene Straßenatmosphäre ("Heat of the Moment"), in dem über den eingesampelten Klängen eines brasilianischen Samba-Festes Debbies Stimme wie ein Nebelwölkchen verweht ... gleich darauf aber wieder genussvoll irdisch wird und sich zu "Miss Guy" Furrow, Front-Drag Queen der Band Toilet Boys, für ein Dancepop-Duett gesellt, das wie die biersaufende tätowierte Cousine von Elton Johns und RuPauls "Don't go breaking my heart" daherkommt: "Charm Alarm", aber echt. Selbstironisch wird's, wenn Debbie in ihren 60ern - zwischen ihr und meiner Mutsch liegen ganze drei Tage (und ein paar Welten) - I'm drinkin' my drink of glamour and damage, seduction and piss elegance prahlt und sich Miss Guys Antwort Oh, you're a dainty jewel hooked on a chain, a souvenir of some other time aufs Brot schmieren lässt.

... und dann ist erst mal Stille, eine halbe Minute lang - wie um die letzten drei Songs, die als einzige nicht aus der Feder Debbie Harrys stammen, vom Rest des Albums abzusetzen. Erst "Jen Jen", eine melodische Weiterführung von "Charm Alarm" im Gitarrenformat. Ergänzt um Gesänge afrikanischer Arbeiter, die Blondie-Kompagnon Chris Stein irgendwo aufgetrieben und daraus ein Stück gebastelt hat, das ebenso wie das Percussion- und Synthesizer-geprägte "Naked Eye" unverkennbar seine Handschrift trägt. Den Abschluss des Albums macht dann ein Stück eines weiteren Weggefährten Harrys, Roy Nathanson von den Jazz Passengers. Von Weichspüler-Keyboards umgarnt haucht sich Debbie "Cry me a river"-mäßig durch eine 50er-Jahre-Melodie und erzählt mit "Paradise" aller oberflächlichen Harmonie zum Trotz die letzte Liebeserklärung einer Selbstmord-Attentäterin.

Aus, uff, verschnaufen, 64 Minuten wie gesagt. In der Zeit hat man einige Gipfel erklommen und auch ein paar Täler durchschritten - etwa das Kabel1-Mitternachtssoftporno-Saxophon in "Paradise" oder die Automatenbeats in den Balladen, wo man sich einen organischeren Schlagzeugeinsatz wünschen würde. Hat gloriose Momente ebenso erlebt wie solche des nicht minder großartigen Scheiterns, nostalgisches Wiedererkennen und haarsträubende Was ist das denn??-Erlebnisse. Staunt einmal mehr über Debbie Harrys einzigartige Stimme, die mal zart, mal cool, mal versoffen klingt. Und wenn sie will, sogar immer noch mädchenhaft.

"Well maybe I could've been better ..."

Vergleicht man Harrys "Necessary Evil" mit dem ebenfalls heuer erschienenen Album "Twelve" von Zeit- und Punkgenossin Patti Smith, könnte der Unterschied nicht größer sein: "Twelve" als würdevolles Hochschulgebäude des Rock'n'Roll - gut nicht zuletzt auf die Art, wie man das gute Buch sagt. Daneben "Necessary Evil": ein Steinbruch. Und Punk - nicht hauptsächlich der paar Gitarrenstücke wegen, sondern im besten Sinne, nämlich aus der Einstellung heraus geschaffen: Scheiß drauf, probieren wir's einfach aus - man höre einfach nur, wie sich Debbie wildjodelnd ins Intro von "You're too hot" stürzt, bevor noch die Gitarren losdreschen: Genau das macht es aus. Ein Album voller Großtaten, Unzulänglichkeiten, Widersprüche, Ideen, Plattheiten und Experimente, kurz: voller Leben - es ist die reine Freude. Three cheers for Debbie: Juhu! Juhu! Juhu!

... und bei der Gelegenheit muss ich gleich mal nachgoogeln, was Frau Ono gerade so macht. (Josefson)