Zur Person: Der Politikwissenschafter und Autor Thomas Bibisidis ist Doktorand am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln, Deutschland, freier Autor sowie freier Dozent für politische Bildung.

Foto:Privat
Nach sechs Jahren zähen Ringens haben sich die Staats- und Regierungschefs in der Nacht zum 19. Oktober 2007 auf dem EU-Gipfel in Lissabon auf eine neue vertragliche Grundlage verständigt. Der „Vertrag von Lissabon“ soll am 13. Dezember unterzeichnet und anschließend bis zu den Europawahlen 2009 von den Mitgliedsstaaten ratifiziert werden.

Ein typisch europäischer Kompromiss konnte die letzten kritischen Fragen, die bis zuletzt für Spannungen gesorgt haben, beseitigen: Das Parlament wird um einen Sitz für Italien aufgestockt, das Mandat des Parlamentspräsidenten hingegen nicht mitgezählt. Die im Vertrag festgeschriebene Obergrenze von 750 Abgeordneten konnte somit auf dem Papier erhalten bleiben. Die sogenannte „Ioannina-Klausel“ wird nicht, wie von polnischer Seite gefordert wurde, Bestandteil des Vertrags selbst, sondern lediglich in einer Erklärung zum Vertrag aufgenommen. Im Gegenzug sicherten die EU-Partner Polen zu, dass die Klausel nur einstimmig geändert werden kann.

Aber selbst wenn am Ende alle 27 Mitgliedsstaaten unterzeichnen, die schwierigste Hürde wird nach dem Gipfel zu nehmen sein. Die Mitgliedsstaaten müssen um die Zustimmung ihrer nationalen Parlamente oder Bürger werben.

„EU-Verfassung“ - „EU-Reformvertrag“ - „Vertrag von Lissabon“

Bei dem „Vertrag von Lissabon“ handelt es sich im Kern um jenes Vertragswerk, dass bereits bei den Volksabstimmungen in den Niederlanden und Frankreich im Jahre 2005 abgelehnt wurde. Geht es nach dem Willen der Staats- und Regierungschefs, erhebt das neue Vertragswerk keinen Verfassungsanspruch mehr, da es ohne jegliche Verfassungssymbolik und -rhetorik auskommt. Allen Beteiligten müsste jedoch klar sein, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits die Gründungsverträge der heutigen EU seit Jahren schon als „Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“ betrachtet. Ungeachtet dessen, haben die 27 Mitgliedstaaten aus der Not eine Tugend gemacht und versuchen mittels eines Kunstgriffes einer Volksabstimmung in einigen Ländern aus dem Weg zu gehen. Ob sich die Bürger von dieser „Mogelpackung“ täuschen lassen, ist fraglich.

Bei diesen Überlegungen haben sich die Staats- und Regierungschefs weniger von der Frage leiten lassen, ob eine Volksbefragung grundsätzlich die geeignete Form sei, um über konstitutionelle Fragen der Union zu entscheiden. Vielmehr offenbart sich darin ein tiefes Misstrauen gegenüber dem möglichen Abstimmungsverhalten des Bürgers. Und das haben sie nicht ohne Grund, denn den Mitgliedstaaten ist es während des Verfassungsprozesses nur in Ansätzen geglückt, durch eine vertrauens- und identitätsstiftende Kommunikation eine stärkere Orientierungsleistung für den Bürger zu erbringen.

Vom Aufbruch zurück zum Elitenprojekt Europa Dabei hatten die Staats- und Regierungschefs aus den gescheiterten Volksabstimmungen zur „EU-Verfassung“ in Frankreich und den Niederlanden zunächst die richtigen Konsequenzen gezogen. Man erinnere sich: Die zwangsverordnete „Phase der Reflexion“ sollte genutzt werden, um über einen Ausweg aus der Verfassungskrise nachzudenken. Ein neues Konzept für die europäische Kommunikation (Plan D - D wie Demokratie, Dialog und Diskussion) wurde eingeführt, um die schwelende Vertrauens- und Akzeptanzkrise zwischen der EU und den Bürgern beizulegen. Diese Überlegungen traten jedoch mit der Wiederbelebung des Verfassungsprozesses -Anfang dieses Jahres - wieder in den Hintergrund.

Fortan bedienten die Mitgliedsstaaten vorrangig die am nationalen und individuellen Nutzen orientierten Kalküle. Die jeweiligen Regierungen boten ihren Bürgern verschiedene Interpretationen der erzielten Kompromisse an und lautstarke Konflikte dominierten das Geschehen. An eine vertrauensstiftende und glaubwürdige Kommunikation, die es den Bürgern erleichtern würde, dem Reformprojekt das Vertrauen entgegen zu bringen, dass es so dringend nötigt und verdient hätte, war nicht mehr zu denken.

Selbst die Elemente, die letztendlich Eingang in das neue Vertragswerk gefunden haben, entfalten nur eine schwache, identitätsstiftende Wirkung und werden den geschürten Erwartungen nicht gerecht. Die gilt für die EU-Grundrechtecharta und das Europäische Bürgerbegehren gleichermaßen.

Die vorgesehenen Änderungen sind bei weitem nicht so spektakulär wie mitunter gerühmt, denn der materielle Umfang der Grundrechtsverpflichtungen verändert sich durch die EU-Grundrechtecharta nicht. Zudem verfügt der Bürger auch in dem neuen Vertragswerk weiterhin nur über sehr eingeschränkte Möglichkeiten, seine Rechte unmittelbar vor dem Europäischen Gerichtshof einzuklagen. Auch die Tatsache, dass die Charta in dem Vertragswerk nur noch als Querverweis auftaucht und mit einer Ausnahmeregelung für Großbritannien versehen wurde, hat das Selbstverständnis der EU als Wertegemeinschaft beschädigt. Und ob das europäische Bürgerbegehren sich als Element direkter Demokratie bewährt, wird die Zeit erst zeigen müssen. Die Frage, auf die der Bürger bzw. der von ihm gewählte Vertreter eine Antwort finden muss, bleibt: Besser die als keine?

Die Eckpunkte des Vertrages finden Sie hier. (derStandard.at/20.10.2007)