Bild nicht mehr verfügbar.

Nach dem Oktoberfestrummel mit sechs Millionen Besuchern ist in der Bayernmetropole wieder Ruhe eingekehrt. Die entspricht ganz ihrem neuen Selbstbild. München gibt sich heute gerne selbstgenügsam, höfisch - und vor allem kommod.

Foto: APA/dpa/Frank Leonhardt
Neulich war wieder so ein Abend, an dem man sich als Münchner für seine Heimatstadt ein wenig schämen musste. Da war der britische Jetset-Journalist Tyler Brulé extra nach München gekommen, um den Menschen mitzuteilen, dass sie laut einer Untersuchung seines Wirtschaftsmagazins Monocle in der schönsten Stadt der Welt lebten. Und was geschah? Nichts. Fast ein halbes Jahr lang hatte das Magazin zusammen mit der Zeitung International Herald Tribune dutzende Kriterien ausgewertet, um herauszufinden, wo auf dieser Welt es sich am besten leben lässt. In Syndey? In Vancouver? In Barcelona? Nein, so das Ergebnis, in München, und damit knapp vor Zürich und Kopenhagen, sei die Lebensqualität, die Mischung aus Freizeitangebot, Arbeitsplätzen und sozialer Sicherheit, weitaus am besten. Tyler Brulé reservierte die Lobby des Hotels Cortiina, beauftragte einen Partyservice, verschickte Einladungen, lud zu einer großen Pressekonferenz und flog in freudiger Erwartung von London-Heathrow nach München-Erding. Ein paar Stunden später sah er gerade einmal dreißig junge Menschen mit Champagnergläsern in der Hand. Tratschend, essend, trinkend. Was er nicht sah: einen Stadtrat, einen Bürgermeister, einen Lokalreporter oder auch sonst irgendeinen zarten Ausdruck des Interesses an seiner Botschaft.

In einer Stadt, deren Bewohner normalerweise darauf achten, dass alles beim Alten bleiben möge, ist das mangelnde Interesse an der eigenen Besonderheit neu. Noch vor wenigen Jahren ließ die sogenannte Münchner Gesellschaft nichts unversucht, um dem armen Rest der Republik die Details ihres mondänen Daseins zu schildern: Roastbeef im Schumann’s, Kitzbühel und das Alpenglühen, Monti Lüftners Tenniscup und nicht zu vergessen: Am Wochenende fahren wir an den Gardasee!

München war immer nur eine regionale Schönheitskönigin

München war sich selbst nicht genug in all den Jahren, wollte eine Weltstadt mit Herz sein und war doch immer nur eine regionale Schönheitskönigin mit der vermessenen Ambition, schon bald Miss World zu werden. Die Olympischen Spiele mussten her, ein Dreisternelokal bitte, und noch eins, danke, denn man war ja schließlich die Metropole der westdeutschen Lebensfreude. Deren Götterfunken sollten den unterkühlten Verfassungspatriotismus der Bonner Republik befeuern. So saßen sie auf ganzer Linie glücklich bei Eckart Witzigmann in dessen Aubergine und gierten nach der Farce vom Keulenfleisch der Taube. Es dominierte die Sehnsucht nach dem fortwährenden Superlativ und es galt das Diktum: München ist nur dann bei sich, wenn es außer sich ist.

Doch dann fiel die Mauer. Und mit dem langen Abschied von Bonn begann auch der heimliche Abschied von jenem München, wie die Republik es kannte. Seit die Deutschen nun in Dresden wieder sehen können, was eine schöne Stadt ist, seit Berlin mit seiner schieren Größe imponiert, keimt im Kreise mancher Münchner Adabeis die Sorge, dass auch über ihrem Schicksal eine Art kosmische Zwangsläufigkeit liegen könnte: Im Osten geht die Sonne auf, im Westen geht sie unter.

Fabrizio Cereghinis bisheriges Leben währte 33 Jahre lang

Fabrizio Cereghini erlebte diesen Zyklus am eigenen Leib. Der mittlerweile 57 Jahre alte Wirt des italienischen Restaurants Romagna Antica sitzt in einem namenlosen Café im Münchner Stadtteil Schwabing und trinkt Wasser ohne Kohlensäure. Er sieht jünger aus als sein Alter es vermuten ließe: Das graue, feste Haar reicht bis zu seinem Nacken, er trägt ein lilafarbenes Polohemd, darüber eine braune, weit geschnittene Lederjacke. Hier, in dem schmucklosen Café kennt so gut wie niemand diesen Mann. Aber hier ist auch nicht seine Welt, denn seine Welt war die von gestern. Am Morgen eines ungewöhnlich warmen Januartages dieses Jahres endete für Fabrizio Cereghini sein bisheriges Leben. Es währte 33 Jahre lang und hatte damit begonnen, dass ein junger Mann aus Italien am Münchner Hauptbahnhof aus dem Zugabteil stieg, als Page im Hotel "Vier Jahreszeiten" zu arbeiten begann, ein paar Jahre später als Wirt des Romagna Antica italienisches Savoir-vivre servierte, bevor seine Stammgäste Helmut Dietl, Bernd Eichinger und Patrick Süskind eine Parabel über die Vergänglichkeit dieses Lebens und Treibens drehten, eben jenen Film Rossini nannten, und damit etwas besiegelten, was längst so lang geworden war wie dieser Satz, so überflüssig und schamlos wie ein Dessert nach dem Dessert. Das war vor zehn Jahren. Fabrizio Cereghini fuhr mit einer geliehenen Limousine zur Filmpremiere. Danach verstärkte er sein Personal und versilberte ein paar Jahre lang den neu geschaffenen Mythos von München und der Heimstatt seiner Schickeria. Bald darauf zog Helmut Dietl nach Berlin, der Eichinger heiratete eine merkwürdige Frau und lebt seitdem fast nur noch in Los Angeles und der scheue Süskind ist damit beschäftigt, den Film über sein Buch nicht zu sehen. Auf einmal saßen Fabrizio und seine für italienische Verhältnisse nur unwesentlich jüngere Freundin allein in ihrem Ristorante. Am 28. Januar dieses Jahres war das Isarmärchen dann zu Ende.

Der Wirt packte seine Sachen, griff zum Telefon und wählte zum Abschied die Nummern seiner Stammgäste. Der Schock der Hinterbliebenen sei groß gewesen, stand anderntags in der Münchner Abendzeitung. Und im Zustand nicht minderer Verwirrung berichtete das Blatt, Fabrizio Cereghini habe zunächst Rainer Werner Fassbinder und erst anschließend Heiner Lauterbach am Telefon über die Schließung ihrer Mensa informiert. Wie Fassbinder denn auf die schlimme Nachricht reagiert habe, erwähnte das Blatt bedauerlicherweise mit keinem Wort. Seit jenen Tagen ist das Prahlerische in München etwas aus der Mode gekommen. Das mag damit zusammenhängen, dass eine neue Generation die Stadt mit jungem Leben erfüllt und nicht mehr ausschließlich das welke Antlitz von Regine Sixt, Uschi Glas oder Gerd Käfer München ein Gesicht verleiht. Es mag aber auch damit zu tun haben, dass die Definition dessen, worin der Münchner per se sich zu Hause, sagen wir: geborgen fühlt, sich in den vergangenen Jahren verändert hat.

"Kamott"

Heute gilt wieder das von Oskar Maria Graf stammende Diktum aus Zeit vor der großen Ekstase dieser kleinen Stadt: "Wir sind für das Kommode. 'Kamott', wie wir es aussprechen, heißt so viel, wie sich in allem gemütlich Zeit lassen und das zuträglich Behagliche voll auskosten." München richtet sich wieder immer mehr in jener Rolle ein, die es über Jahrhunderte hinweg ausgefüllt und doch beinahe vergessen hatte: München wandelt sich fast unbemerkt erneut zu einer Residenzstadt. Geendet hatte diese Zeit im Jahre 1918. Die Wittelsbacher hatten ausgespielt und mit ihnen auch die Empfänglichkeit der Untertanen für das Kamotte: Erst liefen sie einem näselnden Preußen namens Kurt Eisner hinterher und schrien nach der Räterepublik, dann folgten sie einem cholerischen Österreicher und streckten ihren rechten Arm. Nach dem Sturz der Monarchie begann das Streben der Stadt nach einem anderen Selbst: Erst Hauptstadt der Bewegung, dann Weltstadt mit Herz. München allein reichte der Stadt nicht. Erst jetzt, da München sich nichts mehr beweisen muss, jetzt, da es wieder schön und gelassen sein darf, jetzt also ist München wieder so wie früher: Residenzstadt eben.

Deren höfische Gesellschaft schart sich um die mondänen Bauten der alten Residenz in der Mitte der Stadt: Seitdem jüngst sogar die Sperrstunde abgeschafft wurde, eröffnen unzählige neue Clubs im alten Postgebäude am Max-Joseph-Platz, das Restaurant Brenner in den Maximilianshöfen ist jeden Abend berstend voll, Charles Schumanns neues Quartier am nordwestlichen Eck des Hofgartens floriert inzwischen und ein paar Meter weiter gelang es dem Direktor Chris Dercon sein Haus der Kunst nach Jahren der inhaltlichen Stagnation künstlerisch wiederzubeleben. "Alles kulturelle Leben", sagt er, versammle sich wieder im Zentrum. Die Straßen der Innenstadt seien tagsüber und nachts gleichermaßen belebt. Wie es sich für eine Residenzstadt gehört, sind auch die Rollen aller wichtiger Akteure längst vergeben: Da wären zum Beispiel die Hofjuweliere Tom Meggle (Cartier) und Wolfgang Bierlein (Tiffany’s); der Hoflieferant Michael Käfer oder die Hofschänken des Charles Schumanns und Rudi Kulls (u.a. Brenner, Kull’s, Cortiina). Als Hofmaler darf seit seinem abrupten Tritt ins Licht der Öffentlichkeit Florian Süssmayr gelten, als Hofnarr der Belgier Chris Dercon: Er macht alles und er darf alles, was im bayerisch-bigotten Gespinst der Stadt noch vor kurzem unmöglich schien. Revolutionär ist nicht sein Kunstbegriff; revolutionär ist dessen Akzeptanz.

Hofstaat

Münchens Hofstaat aus Künstlern, Unternehmern, Politikern und Wissenschaftern blickt in Richtung eines Throns, auf dem früher einmal ein König saß und heute die Anerkennung durch die Öffentlichkeit Platz genommen hat. Adel wird durch Ruhm verliehen. Alle drängen sie danach, denn Bekanntheit ist das Aristokratische einer nach höfischen Prinzipien organisierten Mediengesellschaft. Wer die Macht besitzt, Prominenz zu fördern oder zu verhindern, braucht sich um seine Attraktivität bei Hofschranzen und Maitressen nicht zu sorgen. Selbst dröge Staatsempfänge gelten wieder als das Nonplusultra des gesellschaftlichen Lebens. Das bestätigt auch der Klatschreporter der Süddeutschen Zeitung, Christian Mayer: "Dort treffen sich alle. Die Zeit der vielen privaten Feste ist eher vorüber. Keiner hebt mehr ab, niemand verliert die Bodenhaftung." Ändern wird sich dies auch dann nicht, wenn im Herbst der aus Franken stammende Günther Beckstein das Zepter des Ministerpräsidenten vom selbstherrlichen Edmund Stoiber übernimmt. Im Gegenteil. Denn mit Stoiber verlässt der letzte direkte Zögling des Franz Josef Strauß die Bühne und mit ihm geht auch die Erinnerung an eine Zeit des nachgerade hysterischen Hedonismus: Als "bauend, brauend und sauend", hatte Lion Feuchtwanger, Autor des Münchner Schlüsselromans "Erfolg", bereits ein halbes Jahrhundert vor Strauß die Gemütslage jenes feisten Menschenschlages beschrieben.

Die Erwartungen des Hofstaates an die Regentschaft Günther Becksteins sind also berechenbar: ein bisschen bauen, ein bisschen brauen und ein bisschen sauen. Natürlich aber wird es auch weiterhin jene Gestalten geben, die bekannt dafür sind, dass sie als bekannt gelten. Wir sehen sie im Käferzelt, in der Bunten, im Café Roma oder neben dem schockgefrosteten Grinsen des Diplom-Prominenten Florian Langenscheidt. Gundis Zambo, Giulia Siegel und Verena Kerth werden uns auch in der kommenden Saison bereitwillig ihre neuen Freunde, Dirndl, Werbepartner und Brüste zeigen. Wirklich wichtig aber ist dieses Personal nicht wirklich, sie sind allenfalls das Dekor einer Veranstaltung, deren Anlass ihnen niemand gesagt zu haben scheint.

Die Stehkrägen

Erst neulich erlaubten sich ein paar wohlhabende Studenten einen Scherz und formierten sich zu einer Gruppe mit dem Titel Die Stehkrägen, produziert von einem angeblich neuen Musiklabel namens Aggro Grünwald. Sie nahmen 10.000 Euro in die Hand, maskierten sich mit den Insignien der Münchner Barone und Charityladys, kleideten sich in grüne Lodenjanker und rote Cordhosen. Dann gaben sie sich Namen wie Constantin Kress zu Krassnsteyn-Seyn, rappten auf einem cremefarbenen Mercedes am Starnberger See und schnupften absurde Mengen weißen Pulvers in ihre hochnäsigen Gesichter. Anschließend stellten sie das Video auf ihre Website und warteten, was passiert.

Als Erstes fiel das Gesellschaftsmagazin Vanity Fair auf die Posse herein und freute sich über die angemessen aggressive Antwort auf den ewigen Hartz-IV-HipHop aus Berlin. "Uns erreichten uns fast nur E-Mails, deren Verfasser keine Sekunde an der Echtheit der Stehkrägen zweifelten", sagt Philipp Walulis, ein blonder 25-Jähriger mit blasser Haut und wichtigster Protagonist von Aggro Grünwald. "Das Überraschende war, dass eigentlich niemand überrascht war. Die meisten glaubten uns."

Die lautstarke Gruppe juveniler Kokser fügt sich in ein neues und neureiches München, das längst so geworden ist, wie es die Satiriker von Aggro Grünwald noch glaubten, ironisieren zu können. Irrtum. An der Isar haben sie selbst das Prekariat seiner Posen enteignet. Subkultur spielt keine Rolle mehr. Alles Alternative ist keine Alternative, denn es stört die Ruhe wie ein dunkler Fleck die weiße Weste. "Hochkultur und Wissenschaft, vor allem darum geht es wieder in dieser Stadt", sagte der ehemalige Opernintendant Sir Peter Jonas bei seinem Abschied. Und auch das kann als ein Indiz für die Renaissance höfischen Gebarens gewertet werden, zumal erst kurz zuvor bekannt geworden war, dass unter den drei Gewinnern der bundesweiten Exzellenzinitiative gleich beide Münchner Universitäten rangieren. In keiner anderen Stadt der Welt befinden sich schon heute derart viele kulturelle Einrichtungen von erstem Rang wie in München: drei Pinakotheken, die Glyptothek, drei Sprechtheater, die Philharmoniker, das Orchester des Bayerischen Rundfunks sowie zwei Opernhäuser, von denen eines, die Bayerische Staatsoper, als größtes Opernhaus der Welt gilt. Doch das reicht den Münchnern nicht. Bald schon soll mit dem Marstall ein weiterer Konzertsaal hinzukommen, so als seien die vielen kulturellen Spielstätten nicht schon jetzt ausreichend für die 1,3 Millionen Einwohner.

Aber München wächst. Und das, entgegen aller demografischen Trends im restlichen Deutschland, sogar im zweistelligen Bereich: Bis zum Jahr 2020 werden voraussichtlich 100.000 Menschen mehr in München leben als heute. Etwa die Hälfte davon sind Singles. Um allein deren Bedürfnisse zu stillen, müssten jedes Jahr mehr als 7000 Wohnungen gebaut werden. Es sind aber lediglich 5000. Die Mieten, in Deutschland ohnehin bereits die höchsten, steigen deshalb weiter.

Nicht ganz zu Unrecht spricht Christian Ude, seit mehr als 14 Jahren Oberbürgermeister Münchens und mittlerweile eine Art sozialdemokratischer Sonnenkönig, von einer "zweiten Gründerzeit". Es wird gebaut und renoviert, erschlossen und erweitert: Erst die Fünf Höfe, dann der Marstallplatz mit den Maximilianshöfen, am Flughafen ein zweiter Terminal, die Schrannenhalle, das jüdische Gemeindezentrum am Jakobsplatz, der Alte Hof, die Untertunnelung des Mittleren Rings, die Hochhäuser im Norden, die Neubauten in Riem und auf dem Gelände der alten Messe, die Allianz-Arena, neue U-Bahn-Strecken, das Lehel- und das Karolinen-Careé, am Flughafen bald ein dritter Terminal, die Renaturierung der Isar. Eine florierende Wirtschaft speist die urbanen Ambitionen nach immer noch mehr Lebensqualität mit frischem Kapital.

In München hat sich eine Revolution vollzogen, nur niemand außerhalb hat es bemerkt. Die Stadt hat sich aus dem Wettbewerb mit Hamburg, Berlin und Dresden verabschiedet, hat die Party verlassen, um zu Hause vor dem Spiegel ein wenig selbstverliebt das eigene Dasein zu bewundern. Heute ist München bei sich, weil es in sich gekehrt ist. Dabei begründet die Stadt ihre neue weltliche Ordnung wieder mit der kamotten Weltsicht des Oskar Maria Graf: „Also gut Genossen, mach ma a Revolution. Damit a Ruah is.“ Im Herbst übrigens will Fabrizio Cereghini wieder ein Restaurant in Schwabing aufmachen. „Was Beschauliches mit weniger Tischen“, sagt er. Rossini soll der Laden übrigens heißen. Rossini wie der Film. Rossini wie damals. (Von Dominik Wichmann; DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20./21.10.2007)