Der Psychologe Zoltán Törey auf einer seiner Bergtouren. Am Großvenediger drehte ein Freund um, weil er das nicht mitansehen konnte, lächelt der "sehende" Blinde.

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Wien – "Ah, endlich wieder guter Kaffee." Zoltán Törey rührt in seiner Tasse herum. Ein wenig eckig erst. Doch nach und nach werden die Bewegungen runder, passen sich der Schale an. Törey hat in seinem Inneren ein Bild von der Kaffeetasse geformt – jetzt fühlt er sie nicht nur, er "sieht" sie. Ein wenig ist es, als würde ein Sehender die Augen schließen und sich Bilder _der Erinnerung zurückrufen. "Aber das ist es nicht ganz", erläutert Törey im Standard-Gespräch. "Denn ich benütze viele unterschiedliche Informationen, um sie zu visualisieren. Echo, Gerüche, der Klang von Möbeln, von Papier. All diese Informationen, die für andere unwichtig erscheinen, ermöglichen es mir, mehrere Dimensionen von Bildern zusammenzustellen." "Wenn ich einen Nagel einschlage oder Kaffee eingieße, muss ich versuchen, das zu sehen. Sonst geht das schief." Prompt fegt Törey, in eine andere Richtung schauend, beinahe seinen Kaffee um, fängt die Tasse aber blitzschnell auf. "Sehen Sie?", lacht er. Töreys Leben hatte sich 1951 mit einem Schlag verändert. Der gebürtige Ungar war vor dem kommunistischen Regime nach Australien geflüchtet und jobbte in einer Chemiefabrik, um sein Studium zu finanzieren. Da explodierte während einer Nachtschicht ein Fass Batteriesäure buchstäblich vor seinen Augen und verätzte seine Hornhaut. Als er im Spital seinen Lebenswillen wiedererrungen hatte, schlug er alle guten Ratschläge in den Wind, die ihm rieten, sich auf das Fühlen und Hören zu konzentrieren und wie andere Blinde das Sehen zu vergessen. Als von je her visueller Mensch nützte der Sohn eines Filmproduzenten seinen Sehsinn weiter in seinem Inneren, um ihn zu vervollkommnen. Törey ging sogar so weit, dass er sich weigerte, die Blindenschrift zu erlernen. Seine Texte schreibt er ohne weiteres auf einer Schreibmaschine – vertippt er sich, korrigiert er den Fehler mit Tippex. So studierte Törey nicht nur Psychologie und arbeitete als Paartherapeut, sondern verfasste in jahrzehntelanger Arbeit das Fachbuch "The crucible of conciousness", in dem er der Frage nachgeht, was das menschliche Bewusstsein ist. Immer wieder löst er bei seinen Mitmenschen blankes Entsetzen aus. Etwa, als er mit seiner Frau und einem Freund eine Bergtour im Großvenedigergebiet unternahm. "Der Freund hat umgedreht und gesagt, er hält nicht aus, was wir da machen", lächelt Törey im Bewusstsein dieses besonderen Gipfelsieges. "Daheim mache ich Tischlerarbeiten und repariere mechanische Sachen ohne weiteres. Das geht ganz einfach – aber ich visualisiere immer und alles, manipuliere es in einem visuellen Raum in meinem Kopf." Sogar die Dachrinne reparierte er selbst – auf der Leiter in fünf Metern Höhe. Die Nachbarn erschreckten sich erst, als er dies auch in der stockfinsteren Nacht tat. Einmal stürzte er ab, stieß sich im letzten Moment ab und landete so in einem Busch. Ob er in diesem Moment vielleicht aufgrund seiner Vorstellungskraft wusste, wo dieser Busch war? "Ja, das könnte sein", überlegt Törey. "Aber das war rein instinktiv." Dabei schaut Törey hinter seinen schwarzen Brillen dem Gesprächspartner direkt in die Augen. Und mit einem Mal fühlt man sich von ihm viel intensiver beobachtet als von einem Sehenden. (Roman David-Freihsl, DER STANDARD Printausgabe, 11.10.2007)