Am 27. Mai 2003 hielt der damalige Bundeskanzler Wolfgang Schüssel im Wiener Stephansdom vor dem "Internationalen Evangelisationskongreß" eine Rede, in der er sich zu einer "Politik in christlicher Verantwortung" bekannte.

Das Recht auf Leben, Familie und Ehe sei in der heutigen Welt bedroht, sagte Schüssel. Daher sei das "Sich-Einmischen der Christen gefordert." Da die "selbstverständliche Solidarität verloren gegangen" sei, müsse sie wieder ins Bewusstsein gerufen werden.

Wenn man die ÖVP-Politik in der Ausländerfrage betrachtet, dann ist sie weit entfernt von diesen Grundsätzen. Schüssel, der heute Klubobmann seiner Partei ist, zeichnet mitverantwortlich für ein Gesetz, das die jüngste Abschiebungsdebatte verursacht hat. Und derselbe Schüssel hat am Wochenende in einem Interview mit dem Standard äußerste Härte signalisiert. Heißt: Es wird abgeschoben.

So weit ist es gekommen, dass in Österreich Menschen wieder untertauchen müssen, dass sie aus dem Untergrund mit Videobotschaften an die Öffentlichkeit treten, weil sie durch ein unmenschliches Gesetz kriminalisiert werden. Sie haben selbst Fehler gemacht, haben illegal unter uns gelebt. Aber es gibt eben auch so etwas wie die Toleranz der Stärkeren. Wenn man will.

Vor diesem Hintergrund soll niemand in der ÖVP behaupten, diese Partei sei christlich. Und es ist genauso schwer, der SPÖ abzunehmen, sie sei humanitär orientiert. Hat sie das umstrittene Gesetz doch mitbeschlossen.

Die beiden "Volksparteien" gehorchen den humanitären und christlichen Prinzipien eigentlich nur, wenn sie keine Wählerstimmen kosten. Wenn genug Geld da ist. Und wenn es um inländische Mitbürger geht.

Innenminister Platter, der ein unmögliches Gesetz exekutiert, verstößt seriell gegen die angebliche Christlichkeit seiner Partei. Er gefährdet Familien, Ehen und Leben. Er steht für die konservative Verteidigung des Gesetzes und schert sich wenig um die Barmherzigkeit. Die Regierung jedoch redet von "Gnade", was mit "Begnadigung" verwandt ist und eine Straftat voraussetzt - unbescholtene Menschen werden zu Gaunern ge-stempelt. Und sie kommt erst jetzt, da fast schon jeden Tag neue Fälle von Abschiebungen bekannt werden, auf die Idee, die "Wahrung des Familienlebens" (O-Ton Platter) zu bedenken.

Wo ist die "selbstverständliche Solidarität" des Wolfgang Schüssel? Die Abschieberegelungen sind doch allesamt auf jene Angst gebaut, die von rechts geschürt wird. Und auf dem Kalkül, durch Härte keine Stimmen an Blau und Orange zu verlieren. Nicht die "christliche Verantwortung" steht an erster Stelle, sondern die populistische Spekulation. Die obsiegt selbst dann, wenn sich ausländische Familien längst integriert haben. Weshalb der Satz "Wer sich integriert, kann bleiben" eine leere Versprechung ist. Eine Lüge sogar.

Mit den tatsächlich kriminellen Drogenhändlern und mit dem organisierten Verbrechen wird der Innenminister nicht wirklich fertig - sieht man ab von den durch deutsche Hinweise ermöglichten Erfolgen gegen mutmaßliche Terroristen.

Also muss man sich auf andere Weise profilieren. Indem man die Ebene der Menschlichkeit verlässt und ins Horn der Gesetzestreue bläst. Indem man Linie hält, in Wirklichkeit auf die Wählerwirkung zählt.

Den Politikern hilft, dass die meisten Abschiebefälle ausjudiziert sind. Was aber bleibt, ist das Unrecht. (Gerfried Sperl, DER STANDARD; Printausgabe, 8.10.2007)