Isolde Charim: historische Konstellation zur Bildungsreform nützen.

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Der Schatten der Ich-AG: Die Wirtschaft sucht solche Menschen, die Neue Mittelschule könnte sie formen.

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Die AHS-Lehrergewerkschaft mobilisiert mit solch haarsträubender Polemik gegen Änderungsversuche im Schulwesen, dass man meinen könnte, die Lehrer würden jene "Nivellierung nach unten" bereits betreiben, die sie der Neuen Mittelschule unterstellen. Das Gespenst, das dabei mit solch fragwürdigen Methoden beschworen wird, ist eine Schulreform, die von folgender Prämisse ausgeht: Das Bildungswesen ist heute eine der zentralen gesellschaftlichen Instanzen. Hier soll der soziale Frieden garantiert werden.

Angesichts eines wachsenden sozialen Problems scheinen eigentlich alle - ob unter dem restriktiven Aspekt des "Spielregeln-Lernens" oder dem karitativen der Integration - zumindest darin überein- zu stimmen, dass Bildung das wesentliche Mittel der Integration sei. Gleichzeitig aber haben die Bildungsinstitutionen an dieser Problemlage noch in ganz anderer Hinsicht teil: Sie fördern ebendiese, indem die Ausdifferenzierung in den Schulen die sozialen Differenzen reproduziert und damit perpetuiert. So steigern sie das Problem, das sie doch lindern sollten.

Diese Widersprüchlichkeit zeigt deutlich: In ihrer derzeitigen Verfassung sind die Bildungsinstitutionen ihrer gesellschaftlichen Aufgabe nicht gewachsen. Es bedarf also einer Veränderung, und dafür haben wir eine einmalige historische Konstellation: Die Dringlichkeit der sozialen Lage trifft auf eine Situation, die einer grundlegenden Veränderung des Bildungswesens äußerst günstig ist.

Es gibt langsam ein gesellschaftliches Bewusstsein über die Zustände an den Rändern der Gesellschaft. Dort entsteht eine Situation, die zunehmend dramatischer wird. Will man sie irgendwie in den Griff bekommen, scheint eine in beide Richtungen - sowohl in die Kindergartenzeit vor, als auch in die Mittelschulzeit nach der Volksschule - erweiterte Schulbildung unabdingbar. Und wenn jemand wie Josef Pröll im Standard meinte, es gebe keine sozialen Barrieren in unserem Schulsystem, dann kann ist zu hoffen, er habe das ironisch gemeint und nicht zynisch. Tatsächlich ist die Forderung noch immer aktuell: Bildung muss auch den sozial Benachteiligten zugänglich gemacht werden. Aber das reicht nicht aus. Die Neue Mittelschule kann nur dann greifen, wenn sie mehr als ein Sozialprogramm ist. Sie muss nicht nur den Rändern, sie muss auch der gesellschaftlichen Mitte eine Perspektive eröffnen. Kurz - sie muss eine gesamtgesellschaftlich sinnvolle Neuerung sein. Um diese zu konzipieren, muss man die lähmende parteipolitische Perspektive SPÖ versus ÖVP verlassen und sehen, dass unterschiedliche Kräfte von Katholischer Aktion bis zur Industriellenvereinigung am selben Strick wie die Schulreformer ziehen.

Mehr noch: Gerade die Wirtschaft hat das Terrain eröffnet, auf dem die bildungspolitische Debatte situiert werden sollte! Die Schnittmenge dabei ist die Vorstellung des Subjekts, die die Ökonomie in ihrer heutigen Form, der Entgrenzung zwischen Kultur und Ökonomie, propagiert. War die Kultur früher das Andere der Ökonomie, so fallen diese heute im so genannten "Kulturkapitalismus" zusammen. Dieser bedarf nun eines neuen Typus, eines Individuums, das autonom, kreativ, flexibel und eigenständig ist - alles Kategorien, die früher die Individualität gegen deren Verwertbarkeit abgrenzten, die nur jenseits der Sphäre der Ökonomie entstehen konnte.

Heute ist Kreativität keine Gegenkategorie zum wirtschaftlichen Handeln und Autonomie, als Selbstregierung, eine Notwendigkeit für ökonomischen Erfolg. Damit aber wird Bildung, das heißt die Produktionsbedingungen solcher Subjektivität, zur wirtschaftlichen Ressource.

Das ist eine einmalige Ge- legenheit. Die Wirtschaft braucht kreative Ich-AGs. Schieben wir einmal all die Sorgen über die dazugehörige Prekarität beiseite und sehen, welchen unglaublichen Nutzen das bildungspolitisch haben kann. Es erlaubt uns, alle Unterscheidungen zwischen verwertbarem und nicht verwertbarem Wissen über Bord zu werfen. Statt das Humboldt'sche Gespenst der interessefreien Bildung zu jagen und nach mehr "verwertbarem" Wissen, nach mehr technischer Fähigkeit zu rufen, sollten wir nach mehr "nutzloser", unverwertbarer Bildung rufen. Heute erhöht eine umfassende Bildung den Status der reinen Ausbildung. Wir haben die einmalige Situation, wo Bildungs- und Wirtschaftsinteressen - bis zu einem gewissen Punkt - kongruieren.

Es ist eine List der Vernunft, dass gerade die Nützlichkeitskategorie, die doch immer das Totschlagargument gegen Bildung war (Stichwort Orchideenfächer), heute das Argument für das Humboldt'sche Ideal ist. Es ist schon klar, dass jene Autonomie, die die Wirtschaft braucht, nicht die Realisierung des Aufklärungsideals bedeutet. Es ist auch klar, dass die Kreativität, die im Erwerbsleben gefragt ist, keine utopische Selbstverwirklichung ist. Und doch ist es nicht möglich, eine Generation zu Flexibilität, Mobilität und Eigenverantwortung heranzuziehen, ohne Autonomie und Selbstbewusstsein zu fördern. Auch wenn man reibungslos funktionierende Subjekte braucht, handelt man sich eine viel umfassendere Autonomie ein. Ein bisschen Autonomie gibt es nicht.

Lehrer verdienen mehr

Die Neue Mittelschule kann nur dann funktionieren, wenn sie der AHS überlegen, wenn sie ein Mehr an reiner Bildung bedeutet. Sie muss ebenso sozialer Defizitausgleich wie bildungspolitischer Überschuss sein. Das Erste jedoch, was der Realisierung diese "Utopie" im Wege steht, ist - die AHS-Lehrergewerkschaft. Und da muss man sagen: Die österreichischen Lehrer haben diese Interessenvertretung nicht verdient. (Isolde Charim, DER STANDARD- Printausgabe, 5. Oktober 2007)