Dietrich von der Oelsnitz war bisher im Fachbereich Unternehmensführung an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften in Ilmenau tätig und wechselt dieses Semester an die Uni Braunschweig. Sollte sich die „ökonomische Steuerung des ganzen Bildungswesens“ fortsetzen, so wird sich dies nach Von der Oelsnitz vor allem negativ auf die Geisteswissenschaften auswirken. Verhindert werden könne dies nur „mit Hilfe des Protestes der Studenten“.

UniStandard: In einem Artikel schreiben Sie: „Da gut ausgebildete Mitarbeiter aus der Sicht der Wirtschaft im 21. Jahrhundert eine elementare Ressource bedeuten, stellen die Unternehmen zu Recht hohe Anforderungen an das staatliche Bildungssystem.“ Meine Frage: Inwiefern glauben Sie, dass Unternehmen überhaupt das Recht haben, Anforderungen an das staatliche Bildungssystem zu stellen?

Oelsnitz:  Sie haben ein begrenztes Recht. Die Wirtschaft ist nur ein Teilsystem der Gesellschaft; Bildung ist ein anderes System als Ökonomie. Von da her haben sie nicht das alleinige Definitionsrecht. Natürlich aber sollen unsere Absolventen später von der Wirtschaft aufgenommen und beschäftigt werden, insofern dürfen die schon gerne ihre Wünsche äußern – das Recht haben sie. Aber unser Recht besteht natürlich darin, selbst zu definieren, was wir glauben, dass ein Absolvent wissen müsste. Die Wirtschaft hat ein eingeschränktes Recht, dass aber alle anderen Subsysteme der Gesellschaft auch haben.

UniStandard:  Aber hat die Universität hier nicht ein gewisses Mehr an Definitionsrechten?

Oelsnitz: So ist es eindeutig. Das Problem der Bildungspolitik ist, dass die wirtschaftlichen Bedürfnisse als alleiniger Maßstab genommen werden. Wenn der Unternehmer sagt: Ich finde, die sollten jetzt alle mal Russisch lernen, dann, etwas überspitzt gesagt, wird irgendwann ein Kurs Russisch an den Unis verlangt und eingeführt. Das wird auch noch dadurch untermauert, dass man zunehmend Stiftungslehrstühle hat. Der Staat zieht sich im Prinzip aus der Finanzierung des Hochschulwesens zurück, überträgt das den Unternehmen, die natürlich dann Platz haben und damit ihre Partikularinteressen verbunden sehen wollen. Deshalb bin ich kein großer Freund von Stiftungslehrstühlen.

UniStandard: Sie plädieren dafür, dass die Universitäten „Orientierungskompetenz“ vermitteln sollten. Was ist unter diesem Begriff genau zu verstehen?

Oelsnitz:  Ich meine damit im Prinzip: Faktenwissen ja, aber wir brauchen eben eine höhere Wissensebene. Die Leute müssen auch wissen, wo sie suchen, sie müssen mit genügend Allgemeinbildung einzelne Disziplinen verknüpfen können. Es nützt nichts mehr, einzelne Experten für bestimmte Fachgebiete zu haben. Orientierungskompetenz meint: Man muss das Wichtige vom Unwichtigen trennen können, man muss wissen, dass es immer noch andere Seiten einer Medaille gibt. Der Orthopäde sieht bei ihnen immer ein Hüftleiden, der Neurologe immer ein Nervenleiden, vielleicht haben beide Recht, vielleicht keiner. Vielleicht haben Sie auch ein psychosomatisches Leiden, dann müssen Sie einen Psychiater heranziehen. Das meine ich: keine einzelnen Fakten, sondern Verknüpfungswissen.

UniStandard: Sie äußern sich auch eher kritisch zum Bologna–Prozess. Was glauben Sie sind die gravierendsten Folgen des Bologna–Prozesses für die Geistswissenschaften? Welche Möglichkeiten gibt es aber auch?

Oelsnitz: Das hängt eng zusammen mit Ihrer ersten Frage. Gerade die Definitionsmacht der Ökonomie, sprich: der Unternehmen, die als Wissen nur mehr das begreifen, was man kommerziell verwerten kann. Sagen wir das ruhig so hart. Mit den Technik – und Ingenieurswissenschaften kann man viel Geld verdienen und neue Generationen von MP3 –Playern und Flat–TVs basteln. Aber die Geisteswissenschaftler zahlen letztendlich die Zeche, weil man deren Wissen oder den Nutzen schlecht messen kann, und vor allem ist der nicht kurzfristig erkennbar. Aber interkulturelle Kompetenzen, Verständnis für andere Religionsgruppen und andere ethnische Gruppen, alles Wissen um die Vergangenheit um bestimmte Fehler nicht mehr zu wiederholen. Wir haben unsere Wurzeln in einem eher humanistischen Ideal der Aufklärung und das droht aus meiner Sicht natürlich völlig über Bord zu gehen, wenn ich entsprechende Lehrstühle kürze und nur noch die unterstütze, die direkt kommerziell nutzbar sind. Ich glaube, dass vielleicht gar nicht so sehr der Bologna–Prozess, aber die Verschiebung hin zu einer ökonomischen Steuerung des ganzen Bildungswesen klar zu Kosten der Geisteswissenschaften geht und das sich das langfristig auch rächen wird.

UniStandard: Wie glauben Sie wird sich die verstärkte Etablierung von Eliteuniversitäten auf die Hochschullandschaft und für die Studenten auswirken?

Oelsnitz: Begrüßen würde ich es, wenn das bisherige Universitätsniveau beibehalten werden würde und darauf aufgesattelt eine Spitzenausbildung stattfinden würde. Aber ich glaube, dass das Gegenteil eintritt. Dass man im Prinzip die Mehrheit der Universitäten auf Fachhochschulniveau runterdrückt und das, was noch übrig bleibt (und das dann so gut ist wie es in der Vergangenheit gewesen ist) als Elite bezeichnet. Will sagen: Die Besten werden nicht besser, aber die Mehrheit wird schlechter werden und dann ist relativ das Elite, was heute Normalfall ist. Das glaube ich, es gibt so quasi einen Wettlauf nach unten.

UniStandard:  Was könnten die Geisteswissenschaften antworten, wenn sie mit der Frage nach ihrem Nutzen konfrontiert sind?

Oelsnitz: Sie sind unverzichtbar wenn man die Welt verstehen will. Punkt. Die Welt verstehen heißt auch die Welt besser gestalten. Ich will jetzt nicht mit der Floskel kommen: „Wer die Zukunft gewinnen will, muss die Vergangenheit verstehen“, aber im Prinzip ist da schon was daran.

UniStandard:  Den Wert der Geisteswissenschaften fassen Sie unter dem Wort „Sinnproduktion“ zusammen, ein Argument, welches häufig gebraucht wird. Polemisch überspitzt frage ich mich dann: Wieso versteht das niemand?

Oelsnitz: Haben Sie darauf eine Antwort, ich weiß es auch nicht. Man muss aufpassen mit pauschaler Politikerschelte, aber: Politiker denken in Wählerstimmen und Wähler argumentieren ökonomisch. Wenn Sie eine Wahl gewinnen wollen, brauchen Sie eine ökonomische Prosperität, sprich: es muss den Leuten gut gehen. Und dazu tragen natürlich die Geisteswissenschaften nur mittelbar bei, während die Ingenieurswissenschaften unmittelbar zu einem kurzfristigen Wohlstand beitragen. Langfristig kann ich dabei verblöden, weil dann habe ich zwar alle Konsumprodukte und alle möglichen Elektrogeräte, aber kann Callas nicht mehr von Dieter Bohlen unterscheiden.

UniStandard: Sie schreiben sehr kritisch über das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE). Wie stehen Sie zu deren jährlichem Ranking?

Oelsnitz: Für mich sind das – überspitzt gesagt - Erfüllungsgehilfen der neoliberalen Bildungspolitik. Jedes Ranking hat Schwächen, auch das CHE – Ranking hat Schwächen. Nicht umsonst sitzen die in Gütersloh, wo ein großer deutscher Medienkonzern ist, der auch viel Geld verdient im Bildungssektor, z.B. über Akkreditierungsagenturen. Und ich behaupte, dass die den Leuten erst einmal den Reformbedarf künstlich einreden, damit sie dann später ihre Tochtergesellschaften mit Umsatz versorgen können. Weil irgendjemand muss die ganzen Akkreditierer und so weiter bezahlen und letztlich sind das dann die Studenten mit ihren Studiengebühren. Das Geld sollte aber da nicht hingehen, also nicht in die Hochschulbürokratie, sondern die sollte in die Verbesserung der Lehre gehen.

UniStandard: Gegen Ende eines Artikels schreiben Sie: „In den Universitäten hat man sich offenkundig daran gewöhnt, den immer wieder verkündeten Imperativen der Wissenschaftspolitik demütig zu folgen.“ Wie können sich die Unis und eben auch die Studenten gegen so etwas wehren? Welche Möglichkeiten sich gegen diese Imperative zu wehren gibt es überhaupt?

Oelsnitz: Im Prinzip geht das nur mit den Studenten oder aus den Studenten heraus. Wir als Professoren sind immer Außenseiter in dieser Debatte, wir werden immer stigmatisiert als diejenigen, die „ja nur ihre Priviegien verteidigen“ wollen. Es bringt nichts, dass eine kleine Professorenschaft dagegen schreibt wie ich. Ich weiß, dass das gar nix bringt, aber ich mach ´s trotzdem. Letztlich kann das nur die Mehrheit verändern, also die Studenten – und die dürfen nicht auf die Straße gehen, weil sie, wie in Thüringen, 40 Euro Verwaltungsgebühr zahlen müssen pro Semester , sondern die sollten vielmehr auf die Straße gehen weil mittlerweile die hochschulinterne Selbstverwaltung und Mitbestimmung abgeschafft wird. Das kann nur mit Hilfe des Protestes der Studenten verhindert werden aus meiner Sicht – denn die Studenten sind auch wieder Wähler und da hat man den Zirkel dann wieder geschlossen. (derStandard.at/2. Oktober 2007)