Der "Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen"

Foto: Steirischer Herbst
An hundert kleinen Tischen bieten hundert Experten ihrem Gegenüber für einen Euro pro halbe Stunde ihr Wissen an. Wie fühlt es sich an, Fachfrau oder Fachmann zu sein? Von Markus Krajewski

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Im Parkett des abgedunkelten Theatersaales, das von der Bestuhlung befreit ist, sind zahlreiche kleinformatige, quadratische Tische zu einem Raster angeordnet. Jeder Tisch besitzt neben einer Pappe mit seiner Nummer eine nackte 40-Watt-Glühlampe zur individuellen Beleuchtung der beiden gegenübersitzenden Gesprächspartner. Im Saal versammeln sich allmählich die ersten Gäste, um an den Tischen Platz zu nehmen, wo sie gleich in eine Diskussion mit dem Fachmann ihrer Wahl eintreten werden. Die Stimmung im Saal bewegt sich zwischen unbestimmter Erwartungsfreude und einer geheimnisvollen Spannung, die sich durch die seltsame Illumination der jüngst von der australischen Regierung als größte Energieverschwender verfemten Glühlampen ins Unwirkliche steigert.

Großes Thema

Gleich werde ich zum Experten werden. Es geht um Amerika, ein Großthema, zu dem es ohne Zweifel berufenere Dialogpartner gäbe. Doch meine Verpflichtung sieht vor, über AC/DC zu sprechen; nicht über die ebenfalls australischen Hardrocker und ihre kurze Weltsekunde Berühmtheit, als sie 1981 mit dem Album For Those About to Rock, We Salute You kurzzeitig die US-amerikanischen Charts anführten, sondern vielmehr über die notwendige Bedingung der modernen Unterhaltungskultur.

Ich spreche über die Elektrizität und darüber, wie sie über Netzwerke zu den Verbrauchern kommt. Über die Glühlampen von General Electric, die sie ab 1880 erst in die Städte und dann in die Weite des ganzen Landes hineingetragen hat. Es geht um Verkabelungen und (elektrische) Stühle, um Nikola Tesla und Thomas Edison, um deren verbissenen Kampf gegeneinander und für ihre jeweilige Überzeugung, das heißt Wechsel- gegen Gleichstrom. Vor allem aber geht es um die strahlende Faszinationskraft jenes zierlichen, wohl geformten Objekts auf dem Tisch vor mir, das durch seinen sanften Lichtschein fast wie ein Kaminfeuer eine heimelige Atmosphäre, bestens geeignet für ein gutes Gespräch, verbreitet.

Auf Augenhöhe

Ein Gong ertönt, das Murmeln verdichtet sich zu einem Lärmen, hebt an zu einer Kakophonie, die erst nach 30 Minuten, nach dem nächsten Gongschlag wieder abebben wird und mit diesem wird auch mein Status als Experte wieder vergangen sein. Fast alle Tische im Saal sind nun mit Paaren besetzt, die zumindest optisch, man neigt einander zu, ein Gespräch auf Augenhöhe zu führen scheinen. Nur ich warte noch auf mein Gegenüber. Niemand erscheint. Mein Fachmannkollege zur Linken hat großes Gerät aufgefahren und redet in einem fort auf seinen etwas verzagt wirkenden Gast ein, welcher den ihm aufgedrängten Bildern im Notebook offenbar mit Skepsis begegnet.

Meine Nachbarfachfrau zur Rechten doziert unterdessen präzise und "cool" über Las Vegas, eine Stadt, die der Hitze von Nevadas Wüste mit kühlem Neonlicht trotzt. Es ist warm. Die Glühbirne hat eine schlechte Energieausbeute: 97 Prozent werden anstatt als Erleuchtung der Umgebung in Form von Wärmestrahlung abgeben. Um der drohenden Beklemmung entgegenzuarbeiten, inmitten eines redseligen Informationsaustausches um mich herum als einziger Fachmann ungefragt zu bleiben, gehe ich lieber dem anderen Unbehagen nach, hier überhaupt als "Experte" aufzutreten. Schließlich weiß ich kaum, was das sein könnte. Was, so könnte man fragen, wird hier eigentlich gerade gespielt?

Unbedarft vs. unfehlbar

Die Rollen scheinen eindeutig verteilt: Auf der einen Seite des Tisches befinden sich jene Fachmänner und -frauen, die bereit sind, für die Dauer einer halben Stunde einen profunden Einblick in ihren jeweiligen Kenntnisbereich zu gewähren, und auf der anderen Seite sitzen die "unbedarften", dafür umso wissbegierigeren Laien, deren spontanes Interesse für einen kleinen, höchst spezifischen Ausschnitt aus dem kaum überschaubaren Angebot im Schwarzmarkt (oder allgemeiner: im gesamten Kosmos) des Wissens sie zu ihrem Experten führte. Vielleicht erhofft sich der Besucher Orientierung in der Frage, wie der Charakter eines Durchschnittsamerikaners beeinflusst worden ist durch Comicstreifen in seiner Tageszeitung. Möglicherweise möchte der Klient aber auch nur wissen, wodurch man zum Experten wird.

Vordergründig scheint die Antwort leicht, weil institutionell geregelt: Zum Experten wird man durch einen spezifischen Wissensvorsprung, welcher mithilfe verschiedener Verfahren überprüft oder unter Beweis gestellt wird: durch Examen, durch Ämter, durch Titel, durch die Anerkennung von Autoritäten, durch Texte, in denen man seine Thesen zu einem Sachverhalt so überzeugend darlegt, dass sie von anderen zustimmend rezipiert werden. Im Fall des Schwarzmarkts ist alles viel leichter: Zum Experten wird man hier infolge einer Einladung, gleichsam durch Zuruf der Veranstalter.

Experten-Look

Mein Blick schweift durch den Saal, wie erkennt man einen Experten? An der Kleidung (Küchenschürze, Feuerwehrhelm)? Oder an der mitgebrachten Hardware (Nähmaschine, Seziertisch)? Bis auf gelegentliche Ausnahmen sind die allermeisten Sachverständigen hier nicht durch äußere Anzeichen zu identifizieren, die jemanden für gewöhnlich als Fachmann ausweisen. Trotz dieser äußeren Symmetrie zwischen beiden Gesprächspartnern, herrscht dennoch ein eigenartiges Missverhältnis zwischen beiden Gesprächspartner am Tisch: Die Kluft zwischen Wissen und Nichtwissen scheint, wenn im Einzelfall möglicherweise auch nicht sonderlich groß, so zumindest virtuell vorhanden zu sein, schon allein dadurch, dass auf der einen Seite ungleich mehr erzählt wird als auf der anderen. Denn eine der impliziten Aufgaben des Gesprächs besteht schließlich darin, diese Kluft zu überbrücken, um das vermeintliche Gefälle der Wissensstände einzuebnen.

Manch einer der Engagierten scheint froh zu sein, das eigene Wissen endlich einmal anbringen zu dürfen. Gemessen am Lärmpegel im Saal scheint die Rede leicht zu fallen. Offenbar verfängt die alte Einsicht von Heinrich von Kleist Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden: "Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen." Die positive Anspannung, die ein solcher Dialog durch die Erwartungshaltung des Gegenübers unmittelbar hervorruft, nötigt dazu, im Gespräch einen neuen Gedanken zu produzieren. Die Idee entwickelt sich während des Redens. Dabei reicht bereits die schiere Vorhandenheit eines solchen Gegenübers aus, der gar nichts weiter unternehmen, also nicht etwa durch geistreiche Widerrede dem Sprechenden eine zusätzliche Anregung bieten müsse.

"Es liegt ein sonderbarer Quell der Begeisterung für denjenigen, der spricht, in einem menschlichen Antlitz, das ihm gegenübersteht; und ein Blick, der uns einen halb ausgedrückten Gedanken schon als begriffen ankündigt, schenkt uns oft den Ausdruck für die ganze andere Hälfte desselben." Der wesentliche Gedanke von Kleist besteht also darin, dass der Sprechende, um selbst Klarheit über das Auszudrückende zu erlangen, einen stummen Katalysator der Erkenntnis benötigt. Was leistet demzufolge das Gegenüber, schon allein durch seine bloße Vorhandenheit? Mit einem Wort, das Kleist seinerseits von Kant entlehnt: Eine "Hebammenkunst der Gedanken". Doch Halt! Wer ist hier wer? Ist es nicht der Experte, der alles schon weiß, und ihm gegenüber sitzend und hörend der Laie, der diese Gedanken als neue Einsicht eigentlich vermittelt bekommen sollte? Augenscheinlich ist es etwas komplizierter als es auf den ersten Blick erscheinen mag, und es lässt sich nicht so ohne Weiteres bestimmen, wer hier Laie und Experte ist. Vielleicht ist die Differenz zwischen Laie und Experten gar nicht so leicht zu ziehen? Gibt es eine andere Figur, welche diesen Unterschied gar systematisch einebnet, indem sie nachgerade virtuos zwischen den beiden Extremen zu oszillieren vermag?

Dilettantismus

Natürlich gibt es sie, und zwar in der Figur des Dilettanten. Seine Stärke liegt darin, das Entlegene zu einer scheinbaren Einheit zu verbinden, zwei völlig verschiedene Bereiche miteinander in eine (bisweilen schiefe) Beziehung zu setzen, die den Fachmännern - infolge ihrer déformation professionnelle - zu entgehen droht. Robert Musil etwa hat dieser Figur des Dilettanten in seinem Mann ohne Eigenschaften mit Paul Arnheim ein Denkmal gesetzt. Die 'wissenschaftlichen' Einlassungen des Dilettanten können den strengen Kriterien der jeweiligen Disziplin kaum genügen. "Sie zeigten wohl ein spielendes Verfügen über eine große Belesenheit, aber der Fachmann fand unweigerlich in ihnen jene kleinen Unrichtigkeiten und Mißverständnisse, an denen man eine Dilettantenarbeit so genau erkennen kann." Was nicht dazu führt, dass ihn die Experten daraufhin geringschätzten. Im Gegenteil. "Sie lächelten selbstgefällig", denn sie sind dankbar, es besser zu wissen. Das Geheimnis des Dilettanten, sein Erfolg auf beiden Seiten der Differenz zwischen Fachmann und Laie, besteht darin, seine scheinbare Naivität (gegenüber dem Experten) mit kennerschaftlicher Attitüde (gegenüber dem Nichtwissenden) zu verbinden.

Was die beiden Beispiele von Kleist und Musil eint, ist nun die schlichte Einsicht, dass ein Experte aus nichts weiter besteht als einer Relation: Der Status eines Experten ist ebenso flüchtig wie relativ zu seinem Gegenüber. So wie der belehrende Redner angesichts seines Gesprächspartners durch die ihm zufliegenden Erkenntnisse zum Lernenden wird und sich infolgedessen die Differenz zwischen Wissen und Nichtwissen stets aufs Neue verwischt, so weiß sich der Experte im Gespräch mit Arnheim einerseits bestätigt durch seine größere Detailkenntnis. Andererseits führt ihm das Gespräch deutlich vor Augen, wo die Grenzen seines Sachverstandes liegen, indem ihm der Dilettant verblüffende Verbindungen eröffnet zu Gebieten, über die er selbst wiederum allenfalls als Laie sprechen kann. Die scheinbar klare Dichotomie zwischen Fachmann und Nichtfachmann droht mit jeder unvorhergesehenen Wendung, die ein Gespräch nehmen kann, zu kollabieren. Kleist wie Musil machen offenkundig, dass sich mit jedem Satz die Rollen zwischen Experte, Laie und Dilettant immer wieder neu verteilen.

Ich sehe, was du nicht siehst

Jede der drei Positionen zeichnet sich dadurch aus, auf ihre spezifische Art ein virtuoses Schauspiel aufzuführen, das vermeintlich überlegenes Wissen ebenso wie produktives Nichtwissen in Szene setzt, um schon im nächsten Moment, beim Blick in das schweigende Gesicht des Gegenübers, die Position zu wechseln. Der jeweilige Experte befindet sich dabei stets in der exponierten Lage, unberührt davon, wie tief seine Kenntnisse tatsächlich reichen, auf plausible Art seine Meinung behaupten zu können. Ein Experte zu sein, heißt nichts anderes, als für den Moment eine besondere Haltung einzunehmen: Ich sehe was, was du nicht siehst. Das Beruhigende an dieser Pose bleibt jedoch ihre stetige Gefährdung, sich schon im nächsten Augenblick, mit dem Blick auf das Gegenüber, zu verflüchtigen.

Die Las-Vegas-Fachfrau am Nebentisch doziert mittlerweile über die Vergänglichkeit der Architektur und die kurze Halbwertszeit, in der die Kasinos am Strip nur noch wenige Jahre überdauern, bevor sie gesprengt und durch neue, monumentalere Gebäude ersetzt werden. Immer noch ohne mein ersehntes Gegenüber bin ich versucht, mich ins nachbarliche Gespräch einzuschalten, um etwa nach dem Neon-Friedhof zu fragen. Nach einem stillen Ort in der Wüste von Nevada, wo die Leuchtreklamen vergangener Epochen zu Grabe getragen sind, um als Memento mori des Lichts von vergangenen Sternen zu künden oder dereinst in neuem Glanz wiederaufzuerstehen. "Man lehrt, wenn man einen Hörer hat. Sind es zwei, handelt es sich um Vulgarisierung", hat Michel Foucault einmal bemerkt, und ich verzichte auf meine Intervention, um den Dialog nebeneinander nicht zu stören. Man lernt auch, so könnte man sich selbst trösten, wenn niemand redet oder zuhört.

Ist ein Experte, der ungefragt bleibt, noch ein Experte? Meine Zuständigkeit beschränkt sich nur mehr darauf, im Gewirr der Stimmen im Saal den Klang der anbrandenden Wellen vor Cape Cod herauszuhören. Eine alte Ahnung reift zur Gewissheit: Inzwischen weiß ich, dass ich nichts weiß, weil mir niemand gegenübersitzt. Gleich wird der Gong ertönen. Stattdessen trifft nun mein Gesprächspartner ein. Wir beginnen, uns über Licht und Erkenntnis zu unterhalten, und ich hoffe, er wird mich eines Besseren belehren. (DER STANDARD Printausgabe, 29./30.9.2007)