Langzeitbeobachtung von Leben, Arbeit, Alltag: In der gegenwärtigen Kinolandschaft scheint sich dieser dokumentarische Zugang zunehmend mit Videobildern zu begnügen. Die Freiheit, unvorhersehbare Begebenheiten und Wendungen abbilden zu dürfen, bezahlen heutige Filmemacher oft mit einer digitalen Verflachung ihrer Aufnahmen. Die Behauptung eines wendigen, spontanen Blicks ersetzt die Atmosphäre und Konzentriertheit, die mit dem aufwendigeren Einsatz von Filmmaterial einhergehen. Umso mehr fallen heute Filme ins Gewicht, die auf diese riskante Sorgfalt immer noch nicht verzichten wollen. Zum Beispiel: die österreichisch-italienische Koproduktion Babooska von Tizza Covi und Rainer Frimmel.

Babooska, das ist der Name einer jungen Frau, einer Artistin, die mit ihrer Familie und deren Zirkus durch Mittelitalien zieht, beständig in Gefahr, das zunehmend magere Publikum endgültig zu verlieren. Gleichzeitig: kaum eine Option für einen Ausstieg aus dem Nomadentum – aus der Macht der Gewohnheit heraus nicht und auch, weil mangels anderer Ausbildung am ohnehin prekären Arbeitsmarkt nichts zu finden wäre. All diese Aussagen und Befunde sind in Babooska aber eigentlich Sache des jeweiligen Betrachters, der sich ohne Off-Kommentar selbst orientieren muss. Konfrontiert ist er mit oft verregneten Stadtlandschaften sowie mit der existenziellen Exponiertheit der Protagonisten unter der Zirkuskuppel oder wenn es gilt, die kleine Kommune aufzubauen und zu schützen.

Man sieht: ein Mädchen, das Schulen memoriert, die es im Verlauf eines Jahres im Zuge der langen Reise besuchen musste. Man sieht: die kleinen Freuden und Ablenkungen in der provisorischen und zugleich durchaus geordneten Wohnwagen-Enge. Wie sehr die Filmemacher vertrauensbildende (Vor-)Arbeit leisten mussten, um mit diesen authentischen Impressionen belohnt zu werden, kann man nur mutmaßen. Jedenfalls steht ihnen der filmische Aufwand wortwörtlich nicht im Weg. Im Gegenteil: Die _atmenden Innen- und Außenansichten eröffnen ins Dokumentarische hinein einen „fiktiven“ Raum, wo Babooska sich gleichsam zu einem Mikrodrama emporschwingt, bei dem durchaus nicht immer auszumachen ist, ob die „Titelheldin“ und ihre Verwandten nicht Schauspieler ihrer selbst geworden sind.

Vergleichbares gelang zuletzt dem französischen Dokumentaristen Nicolas Philibert mit seinem Schulfilm Être et avoir: einen Spannungsbogen zu entwickeln, der keiner künstlichen Konflikte bedarf, sich aber mit dem Wechsel der Jahreszeiten organisch ergibt. Im Fall von Babooska geschieht dies zwischen zwei Geburtstagsfeiern. Am Ende ist die junge Frau 21, echte Perspektiven sind weiterhin spärlich gesät. Im Gegenteil: Amateuraufnahmen früherer Familienfeste belegen, wie viel beschränkter der ökonomische Rahmen geworden ist.

Claus Philipp ist Kulturressortleiter des STANDARD. Der Text erschien dort am 24. 11. 2006.