"Es kann nicht um das unmittelbare politische Umsetzen gehen. Ich bin in der Beziehung ein gebranntes Kind." Helmut Lethen, neuer Direktor des IFK, über die praktische Relevanz der Kulturwissenschaften.

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Am 1. Oktober übernimmt Helmut Lethen die Leitung des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. Mit Klaus Taschwer sprach er über die Krise der Geisteswissenschaften, Auschwitz-Fotos, Bert Brecht und Daniel Kehlmann.

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STANDARD: Wenn heute von den Geistes- und Kulturwissenschaften die Rede ist, dann oft im Zusammenhang mit ihrer angeblichen Krise. Wie schätzen Sie die Lage dieser Fächer ein?

Lethen: In einer Arbeitsgruppe des deutschen Wissenschaftsrats über die Zukunft der Geisteswissenschaften sind wir zum Schluss gekommen, dass die Lage erstens nicht so deprimierend ist, wie oft getan wird. Zweitens waren wir uns einig, dass die Forschung in diesen Bereichen gestärkt werden muss. Die Universitäten bieten so wenig Forschungsspielraum, weil die Lehrverpflichtungen so hoch sind. An den Unis hier muss man viel mehr unterrichten als an den Ivy-League-Unis in den USA.

STANDARD: Wie will man erreichen, dass mehr geforscht wird?

Lethen: Vor allem durch mehr so genannte Wissenschaftskollegs. Das Vorbild ist dabei das Wissenschaftskolleg zu Berlin - dem ja das IFK von der Konstruktion her ähnelt. Etablierte Wissenschafter und junge Forscher von den Universitäten werden von den Wissenschaftskollegs "freigekauft", um an diesen außeruniversitären Einrichtung für ein, zwei Jahre forschen zu können. Vom Modell her gleicht das dem IFK, allerdings fehlen uns für so langfristige Stipendien noch die finanziellen Mittel. Aber im Prinzip sollte hier genau das passieren.

STANDARD: Schlägt das, was an solchen Einrichtungen erforscht wird, dann überhaupt an die Universitäten durch?

Lethen: Die Innovationen wurden in den letzten Jahren nicht wirklich an die geisteswissenschaftlichen Disziplinen rückgekoppelt. Das IFK sollte deshalb eine Bühne sein, wo sich Kapazitäten der verschiedenen Disziplinen austauschen. Es soll jedenfalls kein geschlossener Zirkel sein, wo sich nur Leute aus solchen "transdisziplinären" Einrichtungen treffen. Und ich will auch Skeptiker hierher bringen.

STANDARD: Welche Pläne haben Sie sonst noch mit dem IFK?

Lethen: Es wäre viel geleistet, wenn ich die Kontinuität wahren kann. Das Programm der letzten Jahre unter den Direktionen von Gotthart Wunberg und Hans Belting war toll. Von Beltings medientheoretischen Arbeiten habe ich viel gelernt. Andererseits möchte ich das Themenspektrum über den Sehsinn, der bei einem Kunsthistoriker naturgemäß im Zentrum steht, hin zu anderen Bereichen erweitern - zum Tastsinn etwa, aber auch zu den politischen Handlungsfeldern. Die allenthalben kritisierte Esoterik der Kulturwissenschaften hängt meines Erachtens ja auch damit zusammen, dass sie sich genau davon entfernt haben.

STANDARD: Sollen die Kulturwissenschaften also wieder politischer werden?

Lethen: Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es kann nicht um das unmittelbare politische Umsetzen gehen. Ich bin in der Beziehung ein gebranntes Kind: Zu Beginn der Siebzigerjahre war ich in den linken K-Gruppen engagiert und hegte die Illusion, dem politischen Handlungsfeld sehr nahe zu sein. Das kulturwissenschaftliche Denken braucht einen langen Atem, um beratend zur Seite stehen können.

STANDARD: Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Lethen: Einer der Tagungen, auf die ich mich jetzt schon freue, hat die politische Anthropologie und die Resultate der modernen Biowissenschaften zum Thema. Das Bild des Menschen kann heute nicht ohne Bezugnahme auf die Ergebnisse der Hirnphysiologie und Medizin entworfen werden, was gesellschaftlich und politisch eine brisante Frage ist. Damit soll die Anthropologie wieder Orientierungswissenschaft werden, ohne ihr naturwissenschaftliches Fundament aus den Augen zu verlieren.

STANDARD: Ihr neuer Programmschwerpunkt nennt sich "Kulturen der Evidenz". Was ist damit gemeint?

Lethen: Alle Wissenschaften beanspruchen für sich, Evidenz herzustellen. Das passiert in den Naturwissenschaftern aber anders als bei den Juristen. Zugleich gibt es bei beiden ganz klare Verfahren, wie man das vor Gericht oder im Labor macht. Die Frage nach der Wirklichkeit ist in den letzten Jahren durch den Einfluss des Konstruktivismus etwas abhanden gekommen.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Lethen: Evidenz wurde in den Kulturwissenschaften zuletzt bloß als das Ergebnis von rhetorischen Figuren, kulturellen Kodierungen oder theatralischen Inszenierungen gesehen. Dem will ich mit dem Schwerpunkt kritisch begegnen. Es soll damit also auch eine gewisse "Rückkehr zur Wirklichkeit", zum Common Sense, und ein kritisches Überdenken des Konstruktivismus geleistet werden. Und schließlich soll damit auch das Gespräch mit den Natur- und den Sozialwissenschaften intensiviert werden.

STANDARD: Wie soll das konkret umgesetzt werden?

Lethen: Wir planen zum Beispiel eine Veranstaltung über die Herstellung von Evidenz vor Gericht. Bei den Auschwitz-Prozessen etwa wurde den Fotografien von Tätern vor Gericht keinerlei Evidenz, also Beweiskraft, zugestanden. Man fuhr mit dem Gerichtsfotografen an den Tatort und stellte die Situation nach. Hieran interessiert mich, wie die Evidenz des Augenscheins an Orten nicht gilt, an denen Evidenz nur das Resultat von Verhandlungen sein kann. An dem Beispiel wird auch offensichtlich, dass man Bilder des Wissens nicht abgelöst von ihrem jeweiligen praktischen Kontext betrachten kann.

STANDARD: Haben Sie noch andere Pläne?

Lethen: Für 2008 haben wir eine Serie unter dem Titel "Abschied 1938" vor. Wir wollen an sechs Abenden den Exodus der Sozial- und Kulturwissenschafter dokumentieren, also von Leuten wie Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda oder dem Ehepaar Bühler. Da merkt man erst, was Wien damals für Kapazitäten hatte.

STANDARD: Zum Abschluss müssen Sie Ihre Meinungsstärke demonstrieren und sich spontan für einen von zwei Begriffen entscheiden. Weil Sie sich als Literaturwissenschafter mit den beiden intensiv befassten: lieber Bert Brecht oder Gottfried Benn?

Lethen: Benn, weil er die Matrix des Körpers tierisch ernst nimmt. Brecht, weil er versucht, die Matrix des Körpers zu ignorieren. Beide, weil sie alte Kirchentonarten in einer gottlosen Welt erneut zum Klingen brachten.

STANDARD: Sie müssen sich für einen entscheiden ...

Lethen: Dann Brecht, weil die Haltbarkeit seiner Gedichte größer ist.

STANDARD: Die Weimarer Republik oder die Siebzigerjahre?

Lethen: Die Weimarer Republik, wobei wir ihre Ausstrahlungskraft durch Historisierung untergraben sollten.

STANDARD: Weil die Temperaturmetaphorik in Ihren Büchern eine wichtige Rolle spielt: hot oder cool?

Lethen: Beides. Die Hitze der Leidenschaft ist ohne kühle Distanz nicht denkbar.

STANDARD: Daniel Kehlmann oder Frank Schätzing?

Lethen: Kehlmann. Weil man ihn so gut bewohnen kann und seine Romane Fenster zum Wissen öffnen.

STANDARD: Und weil Sie zuletzt auch Gastprofessor an US-Unis waren: Europa oder die USA?

Lethen: Europa. Mit den Freiheiten eines US-amerikanische Hochschullehrers. Sie sehen, wo es nicht um Entscheidungen geht, braucht es keine Meinungsstärke. (DER STANDARD, Printausgabe, 26.9.2007)