In Großbritannien vergeht kaum ein Tag, an dem der Fall der verschwundenen Madeleine McCann nicht auf den Titelseiten der Boulevardmedien steht.

Foto: Sebastian Borger
Der vergangene Mittwoch war Tag 139 seit dem Verschwinden der vierjährigen Madeleine McCann. Ein ganz gewöhnlicher Tag, jedenfalls, was die Londoner Medien anging. Im BBC-Radiomagazin Today, dem die britische Bildungselite beim Frühstück zuhört, forderte ein Universitätsprofessor den Einsatz des Geheimdiensts zur Aufklärung des Verbrechens. Die fünf landesweit erscheinenden Boulevardzeitungen hatten allesamt Schlagzeilen zum Fall auf der Titelseite.

Fünf Blätter, darunter auch "seriöse" wie The Times und The Telegraph, zeigten zusätzlich ein Foto von Madeleines Mutter Kate. Wie ihr Mann Gerry wird sie von der portugiesischen Polizei offiziell verdächtigt, am Verschwinden ihres Kindes beteiligt zu sein. In den TV-Sendungen kamen Korrespondenten vom Ort des Verschwindens, Praia da Luz an der Algarveküste, zu Wort, schließlich müssen die gewaltigen Budgets der Fernsehsender gerechtfertigt werden. Vor einer Woche zählte die spanische Zeitung El País in Praia da Luz 33 Journalisten vom Murdoch-Sender Sky News, 18 von der öffentlich-rechtlichen BBC.

Geringer Newswert - riesiger Aufwand

Die Zahl dürfte seither zugenommen haben. Beim Betrachten der TV-Berichte, bei der Lektüre der seitenlangen Artikel stellt sich jenes Gefühl ein, das britische Medienkonsumenten aus den vergangenen Monaten schon kennen: Stets steht der geringe Nachrichtenwert in einem grotesken Missverhältnis zum riesigen Aufwand. Die bisher einzige Neuigkeit dieser Woche drehte sich um den neuen Sprecher der McCanns, einen früheren BBC-Journalisten, der zuletzt im Regierungsauftrag die Medien beobachtet hatte (siehe "Felsenfest" hinter McCanns). Seinen Auftritt nutzten die beiden Verdächtigen zur Beteuerung ihrer Schuldlosigkeit, wozu ihnen die britischen Medien ohne jede Einschränkung Gelegenheit gaben.

Unschuldsvermutung

Würde für ein weniger telegenes, weniger eloquentes, weniger gutbürgerliches Paar - die McCanns sind beide Ärzte - die gleiche Unschuldsvermutung gelten? Könnte eine weniger gut aussehende Mutter als die blonde, blauäugige Kate McCann mit der gleichen Sympathie rechnen?

Was in den britischen Medien höchstens ein Randthema ist, machen die wenigen bekannten Fakten vom Abend des 3. Mai klar: Selbst wenn sie am Verschwinden und wahrscheinlichen Tod ihres Kindes unbeteiligt waren, tragen die McCanns Schuld jenseits des Strafrechts. Denn Madeleine schlief mit ihren beiden Geschwistern im unverschlossenen Ferienappartement der Familie, während die Eltern mit Freunden in einem Lokal speisten; rechtlich gesehen eine Verletzung ihrer Aufsichtspflicht.

Als das Verschwinden des Kinds bemerkt wurde, erreichte Recherchen von El País zufolge ein Anruf aus dem Umfeld der McCanns den TV-Sender Sky, rund 30 Minuten bevor die Polizei alarmiert wurde. Seither haben die Eltern alles dafür getan, den Fall im öffentlichen Bewusstsein zu halten, und die Medien spielten weltweit mit.

Spannungen

Dabei schlichen sich auch schon sehr früh Spannungen in die Berichterstattung ein. In ihrer reflexartigen Abneigung allem Fremden gegenüber ließen vor allem die britischen Boulevardblätter von Anfang an tiefe Skepsis gegenüber den Ermittlungsmethoden der portugiesischen Polizei anklingen. Deren mangelnde Öffentlichkeitsarbeit öffnete unautorisierten Berichten vermeintlicher Insider Tür und Tor.

Dies wiederum nutzten portugiesische Blätter für haltlose Spekulationen. "Es gibt eine Wahrheit für die Medien, eine andere Wahrheit für den Justizapparat. Manchmal sind es sehr unterschiedliche Wahrheiten", kommentiert der Anchorman des öffentlich-rechtlichen Senders RTP, Jose Alberto Carvalho. Drastischer drückt es Peter Wilby im Guardian aus: Der Fall werde von den Medien "ungefähr genauso behandelt" wie die neueste Staffel der voyeuristischen TV-Sendung Big Brother.

Auf der Website des "Fonds für Madeleine", der Spenden von in der Höhe von rund 1,5 Millionen Euro verwaltet, ist "Maddie" auch im Trikot des Liverpooler Fußballklubs FC Everton zu sehen. Vor vier Wochen wurde in Liverpool ein anderer, elf Jahre junger Everton-Fan erschossen, allem Anschein nach von einem Jugendlichen, der es auf das Mitglied einer Jugendbande abgesehen hatte und sein Opfer verwechselte. Der Mörder ist nicht gefasst, der Bandenkrieg in den Slums der britischen Städte tobt weiter. Doch der Fall ist längst aus den Medien verschwunden. (Sebastian Borger aus London/DER STANDARD – Printausgabe, 22./23.9.2007)