Zwei Weltkriege, zwei Männer und eine Frau. Der Zeit- und Familienroman "Die Mittagsfrau" der 37-jährigen Julia Franck handelt von einer ungeheuerlichen Entscheidung, aber auch von Sinnlichkeit, körperlicher Nähe, Distanz und vom Verlassenbleiben.

Cover: Fischer
Sommer nach Kriegsende im deutschen Osten, die Sowjetarmee in Stettin, in den Zügen nach Berlin sind keine Plätze zu ergattern, der Vater ist weit weg, er hat an den Reichsautobahnen mitgeplant und sich herrisch von Frau und Kind abgewendet, die Mutter arbeitet als Krankenschwester buchstäblich bis zum Umfallen. Als sie endlich abfahren können, lässt sie den siebenjährigen Peter ohne weitere Erklärung bei einem Bahnhof im Irgendwo allein zurück, auf Nimmerwiedersehen. Was sich wie ein Ende einer oft erzählten Geschichte ausnimmt, ist der Prolog zu einem ungewöhnlichen Roman von besonderer Dichte und großer sprachlicher Meisterschaft.

Die Mittagsfrau von Julia Franck beginnt mit dem Blick eines Kindes auf eine zerbrechenden Welt. Fein spielt der erste Satz – wie dieser ganze Zeit- und Familienroman – vieles verhalten an und bringt eine metaphorische Ebene zum Mitschwingen, einen Blick nach einem unerreichbaren Draußen, eine Hoffnung, eine Einsamkeit und einen in kaputter Umwelt ungehörten Ruf: "Auf dem Fensterbrett stand eine Möwe, sie schrie, als habe sie die Ostsee im Hals, hoch, die Schaumkronen ihrer Wellen, spitz, die Farbe des Himmels, ihr Ruf verhallte über dem Königsplatz, still war es da, wo jetzt das Theater in Trümmern lag." Dieser Rhythmus, die dichte Beschreibung ziehen einen in ein Geschehen, das die Geschichte dieser Mutter schildert und ihre Tat, wenn auch vielleicht nicht verständlich, so doch begreiflich macht.

Eine Kindheit in Bautzen, vor dem Beginn des ersten Weltkriegs, der Vater besitzt ein Druckhaus, die Mutter sei "von zweifelhafter Herkunft", raunt man im christlichen Bürgertum über die jüdische Zugeheiratete, und sie zieht sich in ihr dunkles Zimmer und in die Verwirrung zurück. Das Ambiente dieser Familie in der Provinzstadt, den Antisemitismus, den Einfluss der inneren und äußeren Umgebung auf Helene und ihre Schwester Martha beschreibt Julia Franck so plausibel und umsichtig, so ausdrucksvoll und stilsicher, dass es ihr gelingt, einem diese Welt, von der schon oft zu lesen war, neuartig und eindringlich nahe zu bringen. Francks Sprache folgt den Zeiten, ohne die Übergänge und Brüche groß herausstreichen zu müssen – so wie sich eben das Leben einer Person in den Zeitumständen bewegt. Diese Prosa klingt im zu Ende gehenden Wilhelminischen wie eine aktuelle Form der Gesellschaftserzählungen von Heinrich Mann, nimmt die Stimmung im Berlin der Zwanzigerjahre auf, geht in den Duktus einerseits der Aggression, andererseits des Versteckens im Nazistaat über und vermittelt doch das Individuelle der Erfahrungen jener Helene, die sich ab 1933 Alice nennen und sich von ihrem völkisch begeisterten Mann, dem Vater des kleinen Peter, gröbste Demütigungen gefallen lassen muss.

Bedrückend wirken die Familienszenen, mit dieser abweisenden Mutter, mit diesem geduldig liebenden und dann für den Kaiser ausrückenden Vater, verschämt die kindlich erotischen Handreichungen der kleinen Helene für die neun Jahre ältere Martha. Es ist es ein Kindheitsreich, das hier ersteht. Es zerbricht mit dem Krieg. Der Vater kommt elend invalid zurück, ohne je heldenhaft eingegriffen zu haben. Beeindruckende Szenen schildern sein mühsames Sterbelager, Stimmung und Lage nach seinem Tod: "In allen Zimmern des Hauses brannten Kerzen, der Tag wollte nicht beginnen. Die Wolken lagen tief und schwer über den Dächern, sie hingen zwischen den Mauern, die Nacht schaukelte noch in den Wolken."

Die beiden Schwestern ziehen nach Berlin, zu einer lebenslustigen Tante, Martha ist Krankenschwester, Helene möchte Ärztin werden. Man berauscht sich, so oder so, und der tragische Knoten wird immer enger gezogen. Helenes Verlobung mit Carl, der seinen großbildungsbürgerlichen Eltern die Liaison verheimlicht, bringt nach den Byron-Worten der Kindheit zum letzten Mal die Poesie ins Spiel. Ein romantischer Anflug vor dem Sturz, den Mühen des Versteckens unter falscher Identität, des Ausgeliefertseins, der Einsamkeit. Die dauernde Fluchtbewegung, den Nazi-Horror und einen Verweis auf den Prologschluss konzentriert Julia Franck in einer großartigen, rhythmisierten Szene, in der Helene, jetzt Alice, mit ihrem Sohn tief in den Wald gerät. Sie drängt voran, der kleine Peter hält zurück. Hunde bellen, Trillerpfeifen ertönen, auf der Bahnstrecke stinkt es aus Viehwaggons, weiter weg kauert ein Zitternder unter einem Buchenstamm.

Der Prolog kommt aus der Sicht des Siebenjährigen, der einige Signale wahrnimmt, die ihm nichts sagen und in der folgenden Erzählung vom Leben der Mutter vielsagend zum Ausdruck kommen. Aus der Perspektive des siebzehnjährigen Peter ist auch der Epilog geschildert, aus der Ritze eines Verstecks, ein Verlassenbleiben.

Julia Franck erschafft diese Welten und Zeiten, diese Gesellschaften und Personen in großer Intensität, ohne jeden dichterischen Kraftakt, mit tiefen Einblicken in schwierige psychische Verhältnisse und Beziehungen. Effizient baut sie den Spannungsbogen, sicher setzt sie die Motive, stützt sie sich auf Worte, Blicke, Gerüche und Sinne, einfühlsam gestaltet sie Sinnlichkeit, körperliche Nähe und Distanz. Einiges deutet sie an, manches hält sie in Schwebe, auch eine Stimmung, mit der sich deutsche Nüchternheit, die schnell den Pathosverdacht bereithält, etwas schwer tun mag. Dieser Roman hat nichts von falschem Pathos, er erzählt mitreißend von einer ansteigenden Tragik der Ausweglosigkeit und einer existenziellen Verlassenheit. (Klaus Zeyringer, ALBUM/DER STANDARD/Printausgabe, 22./23.09.2007)