Einfache Diagnosen und Lösungen reichen selten für komplexe Entwicklungen und die daraus folgenden Probleme. Meine Einschätzung dazu: Nicht der Zinssatz an sich stellt eine fundamentale Krisenursache dar, sondern das Zusammenwirken folgender Faktoren:
- Ein permanent über der Wachstumsrate liegender Zinssatz.
- Die fortgesetzte Verlagerung des Gewinnstrebens von realwirtschaftlichen Aktivitäten zu Finanzveranlagung und –spekulation. Dazu hat neben dem seit etwa 25 Jahren positiven Zins-Wachstums-Differential die Schaffung neuer Spekulationsinstrumente (insbesondere die Derivate) wesentlich beigetragen. Aber etwa auch die Förderung der kapitalgedeckten Altersvorsorge, die steuerliche Begünstigung von Gewinnen aus Finanzspekulationen sowie die Globalisierung der Finanzmärkte und die damit verbundene Destabilisierung von Aktienkursen, Wechselkursen und Rohstoffpreisen. Diese Optionen steigern die Gewinnchancen für Spekulationen und die wiederum die Kursvolatilität.
- Die Dominanz des Neoliberalismus in Wirtschaftswissenschaft und –politik und die damit verbundenen Aufgaben einer aktiven Beschäftigungs-, Sozial- und Verteilungspolitik.
Alle diese Faktoren stehen in Wechselwirkung zueinander. In den vergangenen drei Jahrzehnten haben sie ein Regime geschaffen, das ich - im Gegensatz zum "Realkapitalismus" der ersten Hälfte der Nachkriegszeit - als "Finanzkapitalismus" bezeichnen möchte.
Zum ersten Punkt: Aus zwei Gründen kann eine Marktwirtschaft (in der immer Unsicherheit über die Zukunft herrscht) nur dann stetig und bei Vollbeschäftigung wachsen, wenn der Zinssatz mittelfristig unter der Wachstumsrate liegt. Unter dieser Bedingung liegt die Profitrate für Realinvestitionen deutlich über dem Zinssatz, und dieser Anreiz ist nötig, um die höhere Unsicherheit von Realveranlagung im Vergleich zu einer Staatsanleihe oder einem Sparbuch auszugleichen. Außerdem kann ein Schuldnersektor wie jener der Unternehmen nur dann permanent mehr Investitionskredite aufnehmen als er an Zinsen für die bestehende Schuld zahlen muss, wenn der Zins unter der Wachstumsrate liegt. Seit Anfang der 1980er Jahre ist aber das Gegenteil der Fall, weswegen die Investitionen nachhaltig zurückgingen.
Das Wörgl-Experiment war daher makroökonomisch richtig. Damals war die Wachstumsrate negativ. Da der Nominalzins aber nicht negativ werden kann, wurde die Geldhaltung durch die "Schwundregel" faktisch mit einem Negativzins belegt. Auch das Zinsverbot im Mittelalter machte Sinn, die Ökonomien wuchsen damals nicht.
Aber: Die Überlegungen von Gesell sind nicht allgemeingültig, sondern nur für Depressionsphasen (verschärft durch fallende Preise) relevant. Blicken wir als Kontrast dazu in die 1960er Jahre. Damals herrschte jahrelang Vollbeschäftigung, der Zinssatz war positiv, lag aber deutlich unter der Wachstumsrate. Wenn sich die Unternehmer damals zu einem Zinssatz von Null finanzieren hätten können, wäre die Inflation angesichts der voll ausgelasteten Kapazitäten deutlich gestiegen. Außerdem hätte der Zins seine (nicht nur theoretische) Funktion nicht erfüllen können, knappe Mittel zu ihrem profitabelsten Einsatz zu lenken.