Zur Person
Ingrid Zechmeister ist Gesundheitsökonomin am Ludwig Boltzmann Institut für Health Technology in Wien. Sie absolvierte die Akademie für biomedizinische Analytik in Wien sowie das postgraduate Studium "Health Studies and Management" an der Universität Brighton/Großbritannien; Außerdem absolvierte sie das Doktoratsstudium an der Wirtschaftsuniversität Wien mit dem Schwerpunkt Gesundheitsökonomie.

Sie arbeitete an diversen Forschungsprojekten im Bereich Versorgungsforschung Psychiatrie, Gesundheitsökonomie/ gesundheitsökonomische Evaluation und Health Technology Assessment; Ihre Schwerpunkte: Psychiatrie, kardio-vaskuläre Erkrankungen, Gynäkologie und Geburtshilfe; Zechmeister hat auch diverse Lehraufträge an (medizinischen) Universitäten, sowie Fachhochschulen.

Foto: Zechmeister
Das Institut für Pharmaökonomische Forschung hat kürzlich Millionen-Einsparungspotenzial bei psychischen Erkrankungen in Österreich geortet: Durch fehlende Behandlung und Unterstützung entstünden hohe Kosten, die vermieden werden könnten. Ingrid Zechmeister vom Ludwig Boltzmann Institut für Health Technology Assessment warnt hingegen vor zu vereinfachten Kostenrechnungen, sie fordert Hilfe für psychisch kranke Menschen bei der Rückkehr ins Arbeitsleben. Wirtschaft und Sozialsystem sollen den Wiedereinstieg finanzieren, erklärte sie Marietta Türk.

derStandard.at: Wie sieht die derzeitige Arbeitssituation psychisch kranker Menschen in Österreich aus?

Zechmeister: Da dieser Bereich am Arbeitsmarkt wenig Aufmerksamkeit bekommt, gibt es wenige Daten. International kann man sagen, dass ein hoher Anteil von Menschen mit schwerer psychischer Erkrankung entweder arbeitslos ist oder gar nicht mehr in der Statistik aufscheint, aus dem Arbeitmarkt ausgeschlossen ist. Laut deutschen Daten sind die Hälfte aller Menschen mit chronischer psychischer Erkrankung ohne Arbeit. Gleichzeitig gibt es Studien, wonach 90 Prozent durchaus den Wunsch haben zu arbeiten. Man weiß aber nicht, wie viele Menschen mit leichteren Störungen tatsächlich im Arbeitsleben integriert sind.

Arbeitslosigkeit geht wiederum mit psychosomatischen Folgen einher. Bei leichteren psychischen Erkrankungen kann eine Integration ins Arbeitsleben viele andere Folgewirkungen verhindern.

derStandard.at: Wodurch wird der berufliche Wiedereinstieg erschwert?

Zechmeister: Es ist gut, dass es Sozialleistungen gibt, denn es darf nicht so sein, dass diese Menschen arbeiten müssen. Man muss individuell schauen, was überhaupt möglich ist. Aber die Frühpensionierung kann den Berufseinstieg manchmal auch verhindern oder einen Anreiz dagegen ausüben. Die Personen verlieren den Anspruch auf die Pension, wenn sie wieder eine Arbeit gefunden haben, verlieren sie diese aber, verlieren sie auch den Anspruch auf die Pension.

derStandard.at: Mit welchen Problemen sind Menschen mit leichteren psychischen Erkrankungen konfrontiert, wenn sie berufstätig sind?

Zechmeister: Bei vorübergehenden Formen, z.B. Depressionen, die nicht so schwer sind, treten oft Probleme am Arbeitsplatz auf - durch Unwissenheit von Kollegen oder Arbeitgebern. Die Menschen sind oft mit Stigmatisierung oder Mobbing konfrontiert.

derStandard.at: Welche Angebote gibt es für einen Wiedereinstieg in den Beruf?

Zechmeister: In Österreich gibt es durchaus viele Angebote, aber sie sind nicht flächendeckend, zu wenig koordiniert und nicht auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmt. Es gibt zum Beispiel zu wenig wohnortnahe Angebote, sie sind befristet oder beruhen auf einer eher künstlichen Situation.

Es ist aber gut, dass man versucht jetzt eher in Richtung "Place and Train" anstatt zu "Train and Place" zu gehen. Das heißt, man versucht vorher einen Arbeitsplatz zu finden und dann als Begleitmaßnahme zum Beispiel ein Jobcoaching anzubieten, während lange Zeit der umgekehrte Weg gegangen wurde. Diese Ansätze muss man noch ausbauen.

Dann gibt es hohe Zugangsschwellen, bestimmte Altersgrenzen, die nicht überschritten werden dürfen. In manchen Fällen muss Langzeitarbeitslosigkeit gegeben sein, damit ein bestimmtes Angebot in Anspruch genommen werden kann oder es gibt lange Wartezeiten. Wenn die Leute scheitern, gibt es oft zuwenig zusätzliche Chancen.

derStandard.at: Welche Programme gibt es konkret?

Zechmeister: Da gibt es unterschiedliche Varianten: von Plätzen in der freien Wirtschaft mit Jobcoaching bis hin zu Arbeitsassistenz, Arbeitstraining, Bewerbungstraining, Beratung und Unterstützung auch für Arbeitgeber. Diese Angebote sind zusätzlich zu den AMS-Angeboten vorhanden und bei bestimmten sozialen Vereinen angesiedelt(z.B. Caritas, psychosoziale Zentren). Aber innerhalb dieser Angebotsmöglichkeiten ist der Bereich Arbeit der, der zu kurz kommt. Jedes Bundesland hat seine eigenen Angebote im NPO-Bereich, die von verschiedenen Kostenträgern finanziert werden.

derStandard.at: Wo herrscht hier noch Aufholbedarf?

Zechmeister: Auf jeden Fall muss das Gesamtbetreuungskonzept betrachtet werden, wesentlich wäre personenorientierte Betreuung und deren Koordinierung: Wohnbetreuung, Leistungsunterstützung, psychosoziale, psychotherapeutische und medikamentöse Betreuung. Das alles sollte auf die jeweilige Person abgestimmt sein, die nicht von einem Angebotsträger zum nächsten geschickt werden soll. Es bräuchte aber auch professionelle Betreuer, die diese verschiedenen Leistungsaspekte koordinieren.

derStandard.at: Wer soll das finanzieren?

Zechmeister: Mein Vorschlag zum niederösterreichischen Psychiatrieplanungskonzept war ein so genanntes regionales Psychiatriebudget: Jene Kostenträger, die jetzt Teilleistungen finanzieren, sollen in einen gemeinsamen Pool einzahlen. So würde man verhindern, dass diese Leistungen von den einzelnen Kostenträgern fragmentiert finanziert werden.

derStandard.at: Wer sollte konkret in diesen Pool einzahlen?

Zechmeister: Land, Bund, Sozialversicherungsträger, das AMS und europäische Fonds (Europäischer Sozialfonds) zum Beispiel.

derStandard.at: Und die Rolle der Wirtschaft?

Zechmeister: Die Wirtschaft sehe ich bei der finanziellen Förderung von psychischer Gesundheit - Präventionsmaßnahmen am Arbeitsplatz. Zum Beispiel Stressprävention, die überhaupt verhindert, dass Menschen psychisch krank werden und den Arbeitsplatz verlieren.

derStandard.at: Würde man dadurch auch Kosten sparen?

Zechmeister: Seit Beginn der 1990er Jahre sind die Krankenstandstage aufgrund psychischer Erkrankung um zirka 50 Prozent gestiegen, ebenso die Krankenstandsfälle, während sie insgesamt abgenommen haben. Noch stärker ist dieser Anteil bei den Neuzugängen zur Frühpensionierung.

Bedenkt man das, ist es durchaus eine sinnvolle Investition. Für mich steht aber nicht so sehr die Einsparung im Vordergrund, sondern gerade im Bereich Arbeit das Recht des Menschen auf Teilhabe in der Gesellschaft.

derStandard.at: Gibt es Vorbilder außerhalb Österreichs?

Zechmeister: In Deutschland gibt es zwei Beispiele, die vom Ansatz her sinnvoll sind. Das eine ist das "Hamburger Modell", bei dem eine gestufte Rückkehr an den Arbeitsplatz ermöglicht wird. Der Arbeitnehmer beginnt mit wenigen Wochenstunden und steigert das über Wochen oder Monate, denn oft ist es nicht möglich von 0 auf 40 Stunden wieder zu arbeiten. Während dieses Prozesses bleibt der Arbeitnehmer noch krank geschrieben und erhält anteilig sowohl Krankengeld als auch Entlohnung.

Ein zweiter Ansatz ist das Modell "Herne", eine Kooperation mit lokalen Volkshochschulen. Die arbeitsvorbereitenden Unterstützungsmaßnahmen, die bisher im stationären Bereich der psychiatrischen Klink stattgefunden haben, werden in die Volkshochschulen verlagert und das Schulungsangebot für Menschen mit psychischer Erkrankung zugänglich gemacht. So wird zugleich auch mehr Verständnis für diese Menschen geschaffen.

derStandard.at: Eine kürzlich veröffentlichte Studie weist auf enormes Einsparungspotenzial bei psychischen Erkrankungen durch bessere medizinische Behandlung hin? Wie sehen Sie das?

Zechmeister: Ich begrüße es schon, dass die ökonomischen Aspekte thematisiert werden. Für mich ist die Fokussierung auf den medikamentösen Aspekt aber zu einseitig. Man kann natürlich solche Einsparungspotenziale berechnen, sie sind aber immer Schätzgrößen. Theoretisch sind durch ideale medikamentöse Versorgung weniger stationäre Aufenthalte notwendig.

Einsparung ist aber erst gegeben, wenn man auch die stationären Strukturen verändert, da müsste man dann auch zum Beispiel Betten abbauen, was zum Teil schon passiert. Meist ist es aber weniger eine Einsparung als eher eine Umlagerung von Kosten. Manchmal übernehmen dann Angehörige wieder mehr, Kostenverlagerungen in den privaten Bereich sind die Gefahr. (derStandard.at, 7.9.2007)