Das, was begegnet, wird noch einmal und im Moment konkret zur Sprache gebracht:Oswald Egger.

Foto:Isolde Ohlbaum
Stellen wir uns "den Dichter" angesichts von Landschaft vor. Vielleicht ist er dann Bergsteiger, nach schwieriger Kletterei richtet er sich auf und blickt vom höchsten Gipfel aus in die Weite. Sein Ausblick auf das Erhabene braucht keine weitere Beschreibung: Schon erinnert er uns an eine Bibliothek erwartbarer Erlebnisse und Gedanken.

Moderne Leseforschung hat für die Bereitwilligkeit, mit der sich diese Erwartungen einstellen, das Bild des Rahmens geprägt. Sie erklärt damit, warum Geübte viel zu schnell lesen, um alle Buchstaben in Wörtern und alle Wörter in Texten zu entziffern. Geübte Leser vergewissern sich nur mehr punktuell, ob ihr einmal etablierter Verständnisrahmen seine Gültigkeit behält. Sie nehmen dabei gar nicht bewusst wahr, wie sehr sie die Bedeutung von Wörtern in Hinblick auf ihre einmal gefasste Vorerwartung eingrenzen und umkonstruieren.

Kaum bemerkt von der breiteren österreichischen Öffentlichkeit hat der 1963 in Südtirol geborene Oswald Egger heuer den Peter-Huchel-Preis bekommen, die renommierteste Auszeichnung für deutschsprachige Lyrik. Der Umschlag seines neuesten Gedichtbandes nihilum album zeigt auf der Innenseite eine Wabenstruktur unregelmäßiger, in sich geschlossener Rahmen. Das Cover aber interpretiert die Eckpunkte eines solchen Rahmens als Gelenke und spreizt die Kanten zur Skizze einer Gliederpuppe auf. Figuren wie diese trennen innerhalb des Bandes auch jeweils zehn Gedichte. Sie führen vor, wie Eggers Vierzeiler mit der Bedeutung ihrer Wörter umgehen. Sie setzen den Rahmen der Erwartung, der mit ihnen verknüpft ist, in Bewegung. Die Wortbedeutung wird unberechenbar.

Das kommt manchmal so lapidar wie das Rätsel vom Huhn und vom Ei daher ("Im Meer / blaut / das ganze / Meer"). Vor allem zeigt diese Sichtweise von Dichtung aber bis in die elementarsten Bestandteile der Sprache, die Namen, die vorhergehende Operation der Benennung ("Zwiebelglocken / Pflugsp’litzen und Schlimm- / Blüten, so viel / Geschrei"). Das, was begegnet, wird gleichsam noch einmal und im Moment konkret zur Sprache gebracht. Dadurch sehen diese Gedichte anders hin als die Alltagssprache.

Reibefläche dieser Poetik kann jeder Sprachgebrauch werden, der von festgelegten Bedeutungen ausgeht, und dazu gehört der begrifflich-theoretische wie der alltägliche. Eggers früherer Gedichtband Nichts das ist arbeitete sich an der Unterscheidung von Gedicht und theoretischem Sprechen über das Gedicht ab. Der neue Band fordert die Gedichte nicht mehr mit einer theoretischen Verortung heraus, sondern mit dem Druck, sie als Alltagsritual aufzufassen: nihilum album enthält 3650 Vierzeiler, zehn pro Tag, geschrieben über ein Jahr. Die im früheren Band vordergründigere "Theorie" erscheint dabei einerseits ganz in die Gedichte verlagert ("Zwischen mir und / meinem Schwatzen / klafft Zwischenraum / mit Quasten") andererseits im schmalen und peripher publizierten Beiheft "Korrolar". Japan hat mit dem Haiku eine lyrische Tradition, die aus der Zen-buddhistischen Aufhebung von Bedeutungszuschreibungen ihre Kraft zieht und doch zugleich Alltag in der Volkskultur ist. Auf Volkskultur abseits aller Touristenseligkeit haben sich immer wieder auch jene in einer zeitgenössischen Tradition österreichischer Lyrik berufen, die mit Wittgensteins Bild des "Sprachspiels" Ernst machen wollten. Oswald Egger assoziiert seine Gedichte mit "Liedern", "Schnaderhüpfeln". Die CD im Band allerdings, auf welcher Egger einen Teil der Gedichte liest, löst das nicht ein: Sie vertont außerdem Vielstimmigkeit und Unverortbarkeit der Gedichte, ohne dem Zuhörer das Zögern zu erlauben, zu welchem den Leser das Stolpern über die Wortbedeutungen zwingt.

"Will Erpel sein / und untertauchen / und plaudern / im See": Der Angler-Kritiker stellt sich da den Dichter als Herrn X angesichts von Landschaft vor. Wahrscheinlich sitzt auch er stundenlang am Wasser, aber genau genommen könnte das ein verwildertes Kleinbiotop im Garten sein oder auch nur ein Foto davon am Schreibtisch. Wörter wie "Sumpfvergissmeinicht" oder "Krauses Laichblatt" – "Potamogeton Crispus" steigen in ihm auf, denn er hat sich mit Botanik beschäftigt.

Wir zögern, uns diesen Herrn X im selben Sinn als Dichter vorzustellen wie seinen von der Höhe herabblickenden Bergsteiger-Kollegen: Liegt das aber nicht einfach daran, dass er weniger geneigt ist, uns einen vorgefassten – durch die Tradition gerahmten – Gedanken noch einmal aufzudrängen? (Christoph Leitgeb, ALBUM/DER STANDARD/Printausgabe, 01./02.08.2007)