Dabei benutzt Le petit lieutenant, die vierte Kinoarbeit von Xavier Beauvois, die Erwartungen an einen klassischen Genrefilm mehr als Aufhänger. Alle Versatzstücke sind vorhanden, tendenziell wird jedoch das Unspektakuläre, die Routinen, der Verschleiß in den Vordergrund gespielt: die Fußwege, die Müdigkeit, die Rituale, die Fehlschläge, die Kleinarbeit.
Von der Pragmatik des Polizeialltags kommt der französische Regisseur im Gespräch mit dem Standard rasch zur Pragmatik des Filmgeschäfts: "Das Kino ist eine Industrie. Wenn Sie das Geld für einen Film auftreiben müssen und den Financiers, dem Fernsehen sagen: ,Ich will einen Film über Depressionen drehen, über eine Frau mit Alkoholproblem', wird das nicht funktionieren. Also müssen Sie schummeln, die Geldgeber glauben machen, dass Sie etwas anderes tun. Le petit lieutenant fängt deshalb mit dem Polizeineuling an, aber allmählich wird es zu einem Film über diese Frau."
Die Frau, von der Beauvois spricht, ist Antoines Vorgesetzte, die Kommissarin Vaudieu (Nathalie Baye). "Madame Super-Flic", eine versierte Ermittlerin, die von ihren männlichen Kollegen respektiert wird, aber trotzdem auch immer ein bisschen allein bleibt. Eine grandiose, untypische Frauenfigur, deren Schicksal sich allmählich fatal mit jenem ihres jungen Untergebenen verknüpft.
Typischer Anfänger
Xavier Beauvois selbst ist dagegen so etwas wie ein zorniger (inzwischen nicht mehr ganz) junger Mann des französischen Autorenkinos. Der Filmkritiker und Autor Jean Douchet hat ihn als Schüler in Calais fürs Kino begeistert. Erste praktische Erfahrungen sammelte er Mitte der 80er-Jahre dann gleich als Praktikant bei Manoel de Oliveira und André Techiné ("Ich habe mich bei der Arbeit an Le petit lieutenant erinnert, wie das war, als ich damals nach Paris gekommen bin - der typische, enthusiastische Volontär: Ich war auf einem Filmset - und glücklich, auch wenn ich kein Geld dafür bekommen habe.").
Seit seinem Debüt Nord (1991) wird Beauvois' Arbeit immer wieder ausgezeichnet. Als Autor und als Darsteller hat der nunmehr Vierzigjährige unter anderem mit Philippe Garrel, Jacques Doillon oder Catherine Breillat gearbeitet. Zu seiner Filmfamilie gehört außerdem der Produzent Pascal Caucheteux, der unter dem Dach der Produktionsfirma Why Not viele maßgebliche französische Filmschaffende - Garrel, Claire Denis, Arnaud Desplechin, Bruno Podalydès - versammelt.
Neben Namen wie diesen fallen im Gespräch noch andere. Beauvois' Kinoheroen heißen Truffaut, Godard, Lubitsch oder Kubrick - das Filmemachen ist für ihn aber nicht zuletzt eine kollektive Anstrengung: "Ich bin ein bisschen ein Vampir, ich will versuchen, Filme zu machen, die intelligenter sind als ich. Um das zu erreichen, muss man wie ein Vampir von der Intelligenz der anderen profitieren: von der Intelligenz der Techniker, der Produzenten, der Autoren, der Schauspieler - und insofern lasse ich ihnen Raum, ich lasse ihnen das Vergnügen, sich auszudrücken.
Da ich selbst auch Schauspieler bin, weiß ich, wie das ist, wenn man innerhalb von fünf Minuten fünfzehn Einstellungen dreht, der Regisseur einen Dialog, ein Zusammenspiel unterbricht, um nach einem Satz die Kamera anders zu positionieren. Das bremst einen als Schauspieler, man will ja spielen, ein bisschen erfinden, und das ist unter solchen Bedingungen schwierig."
Auch das Darstellerensemble hat somit Anteil an jenem Eindruck von Realismus, der Le petit lieutenant schließlich ebenfalls von einem reinen Genrefilm unterscheidet. Und wie kommt es eigentlich, dass einem in Zeiten, in denen TV-Krimis sich häufig mit gerichtsmedizinischen Prozeduren beschäftigen, schon lange keine Obduktionszene mehr so unter die Haut gegangen ist?