Abertausende Minderjährige gehen weltweit Jahr für Jahr spurlos "verloren". Viele von ihnen fallen einer skrupellosen Industrie zum Opfer, die sie kommerziell und sexuell bis zum Letzten ausbeutet – bis hin zum Mord.

Foto: STANDARD/Heribert Corn

Madeleine Beth McCann ist kein Einzelfall, beileibe nicht. Am 3. Mai dieses Jahres verschwand die vierjährige Schottin aus dem Zimmer eines Familienhotels in Praia da Luz an der portugiesischen Algarve, und trotz einer Lawine von Hilfsaufrufen und Medienberichten fehlt noch immer jede Spur von ihr.

Wie McCann gehen alljährlich weltweit abertausende Kinder "verloren". Die Statistiken sprechen Bände: In Spanien sind schätzungsweise 1200 Fälle ungeklärt, knapp 1800 Kinder wurden laut Angaben der EU-Kommission 2005 in Italien vermisst, in Belgien waren es 1022. In England werden jedes Jahr um die 900 Kindesentführungen gemeldet, in Österreich gelten etwa 150 bis 200 Jugendliche unter 18 jährlich als abgängig.

Allein in Guatemala verschwinden monatlich etwa 100 Kinder. Kaum ein Fall erregte dort ein solches Aufsehen wie der der neunjährigen Michelle, die man, bestialisch ermordet und zerstückelt, in der Nähe ihres Heimatdorfes auffand: ohne Arme, ohne Beine, ohne Augen. Das Dorf nahm die Justiz selbst in die Hand und lynchte die Entführerin, die rund 100 Euro für das Kidnapping kassiert hatte. In Lateinamerika fahren Geländewagen durch Dörfer und "sammeln" Kinder auf. Mit gefälschten Dokumenten werden sie per Flugzeug ins Ausland verfrachtet. Eine gängige Reiseroute führt via Madrid nach Frankfurt.

Nicht alle der tausenden Vermissten geraten in die Gewalt anonymer pädophiler Verbrecher. Manchmal sind es Ausreißer, die spurlos verschwinden, in anderen Fällen Scheidungskinder, die von einem Elternteil entführt werden. In den USA ließen die einschlägigen Statistiken schon lange die Alarmglocken klingeln; in der EU, dem Hauptmarkt der Pädophilen, ringt man sich hingegen erst langsam zur Errichtung einer vernetzten Datenbank durch. Unterstützung bieten Nichtregierungsorganisationen wie der Schweizer Kinderschutz, die spanische AVICSIN, die ACPE in Frankreich und Belgien oder Eigenbau-Webseiten der Eltern, die auch Jahre nach dem Verschwinden die Hoffnung nicht aufgeben. Ihre quälende Ungewissheit hat erst dann ein Ende, wenn die Kinder, oft erst nach Jahren, lebend zurückkehren wie im Fall Kampusch, oder wenn, was viel häufiger vorkommt, die Leichen gefunden werden.

"Snuff"-Pädophilie

Viele der verschwundenen Kinder fallen einem Verbrechen zum Opfer, das so grausam und menschenverachtend ist, dass es den Vorstellungshorizont sprengt: Sie werden bis hin zur "Snuff"-Pädophilie sexuell und kommerziell ausgebeutet, und im schlimmsten Fall sterben sie an den Misshandlungen oder werden gezielt umgebracht. Für "Snuff"-Videos werden um die 18.000 Euro bezahlt. Entführte Kinder werden um bis zu 400.000 Euro "gehandelt", die Gewinnspannen in dem Geschäft sind enorm. Die Täter agieren vernetzt, im Internet setzen sie das Kürzel "p2" an ihre Namen, sie kommunizieren via Skype, "rekrutieren" neue "Hauptdarsteller" per Mausklick in Chatrooms. Diese verschwinden manchmal über Tage, Monate oder gar über Jahre hinweg. Mit dem Internet hat der Vertrieb von kinderpornografischem Material einen immensen Aufschwung erfahren. Der spanische Strafrechtsexperte Javier Gustavo Fernández Teruelo geht heute davon aus, "dass die Hälfte aller Online-Verbrechen mit Pädophilie zusammenhängt".

"Oft steht Aussage gegen Aussage"

Es ist eine Art von Verbrechen, das verschwiegen und geleugnet wird, bei denen häufig ein "Mangel an Beweisen" herrscht und Angeklagte "im Zweifel" mit Bagatellstrafen belegt werden. Die WHO definiert Pädophilie als eine Verirrung in den sexuellen Präferenzen, doch Pädophile "lieben" Kinder nicht, wie ihr Name suggeriert. Sie benützen sie, um ihre Machttriebe auszuleben, um sie zu quälen. Sie sehen sie als Ware, die wie der illegale Drogen-, Waffen- oder Frauenhandel enorme Profite abwirft. Und die Opfer haben, wie die Gerichtspsychologin Esperanza Casals aus Valencia meint, vor der Justiz meist einen schweren Stand: "Oft steht Aussage gegen Aussage, den Kindern wird weniger Glauben geschenkt."

Es wäre ein Irrtum zu meinen, dass alle Kinder und Minderjährigen, die alljährlich "verschwinden", Ausreißer sind. Kein vierjähriges Mädchen wie die Italienerin Denise Pipitone, die 2004 vor dem Haus ihrer Großeltern in Sizilien verschwand (siehe Kasten rechts), oder die fünfjährige Schweizerin Ylenia, die zum letzten Mal auf dem Weg ins lokale Schwimmbad gesehen wurde, reißt aus dem Elternhaus aus.

"Operación Penalty"

Oft geraten verschwundene Kinder in die Fänge einer im Dunkeln operierenden Industrie, über deren Ausmaße man sich anhand des beschlagnahmten pädophilen Video- und Bildmaterials eine Vorstellung machen kann: Im Zuge der "Operación Penalty" wurden heuer Mitte Juli in Spanien 48 Millionen Dateien mit kinderpornografischen Darstellungen beschlagnahmt, 66 Personen wurden auf Anweisung von Interpol verhaftet. Ein Grundschullehrer aus dem asturischen Avilés hatte zehn Millionen Dateien mit pädophilen Files in seinem Besitz, die auf zig externen Festplatten gespeichert waren.

Der örtliche Richter setzte den Lehrer bis zur Anklageerhebung auf freien Fuß, tags darauf fand man seinen Leichnam in einem nahen Fluss treibend. Offensichtlich Selbstmord, eine Obduktion wurde für unnötig befunden. "Er wusste zu viel, solche Personen sind Vertreiber, die haben umfangreiche Kundenlisten", ist Antonio Toscano überzeugt. Der spanische Aufdeckungsjournalist bewegt sich seit Jahren im gefährlichen Milieu der Kinder-, Drogen-, und Waffenschieber und konnte nach eigenen Angaben 14 Kinder retten – "bis zu vier Monate nach ihrem Verschwinden".

"Los Demonios del Eden"

Es fragt sich, wie viele Kinder für diese 48 Millionen Files missbraucht, gequält, vergewaltigt, unter Drogen gesetzt wurden. Der heute 22 Jahre alte Santiago Moreno Riuz aus Benicarló, der im örtlichen Jugendheim "Baix Maestrat" von 1997 bis 2002 gemeinsam mit fünfzig anderen Kindern sexuell missbraucht wurde, leidet heute noch an den psychischen Folgen. Er hat zahlreiche Klagen eingebracht, bislang ohne Erfolg, unter anderem gegen den konservativen Präsidenten der Provinz Castellón, Carlos Fabra, der in mehreren Aussagen bezichtigt wurde, Kinder misshandelt zu haben. Auch eine Richterin, Sofía García Díaz, soll laut Anzeigen, welche dem STANDARD vorliegen, an Misshandlungen beteiligt gewesen sein. Wenn Vertreter der Polizei, der Justiz und gar der Politik in solche Fälle verstrickt sind, sinken die Chancen, dass sie erfolgreich zur Rechenschaft gezogen werden können, gegen null. Auch die Journalistin Lydia Cacho konnte in ihrem Bestseller "Los Demonios del Eden" ("Die Teufel von Eden") nachweisen, dass zwischen Päderastenkreisen und der hohen mexikanischen Politik enge Beziehungen bestanden.

Es sind häufig dieselben Namen, die man im Zusammenhang mit der möglichen sexuellen Ausbeutung von verschwundenen Kindern zu hören bekommt. Im Falle von Madeleine hat der Aufdecker Toscano Anfang Juni darauf hingewiesen, dass "El Francés" alias Bernard Alapetite, ein französischer Pornoproduzent mit Kontakten zur rechtsradikalen Szene, in die Sache involviert sein könnte. Toscano bezichtigte in einem "El Mundo"-Interview einen "El Francés" und dessen Spießgesellen als Hintermänner einer Entführung. Alapetite ist ein alter Bekannter. Von 1998 an habe er, der schon viermal einschlägig verurteilt wurde, in der Bar España Kinder missbraucht, sagt Santiago Moreno Riuz, und er soll auch in Waffen- und Drogengeschäfte verwickelt gewesen sein. "Sie haben uns alles verabreicht, Kokain, Heroin, Tabletten, Brech- und Durchfallmittel. Wir mussten das konsumieren, unter Todesdrohungen, mit der Pistole an der Schläfe."

Weit verbreitete Ignoranz

Viele Verbrecher, die Kinder verschwinden lassen und sexuell und kommerziell ausbeuten, kommen wegen einer weit verbreiteten Ignoranz ungeschoren davon. Es sind Verbrechen, die man ungern zur Kenntnis nimmt, weil sie das Image und den Tourismus ganzer Länder schwer schädigen könnten. Von denen viele nichts wissen wollen, weil sich bei jeder Pädophilen-Razzia wieder herausstellt, dass viele Konsumenten Leute aus angesehenen Berufen sind: Uni-Professoren, Ärzte, Politiker. In der Affäre um den Kinderschänder Marc Dutroux, der lebenslang in Belgien hinter Gittern sitzt, gab es ein ständiges Bestreben, die Existenz eines pädophilen Netzwerks abzuleugnen und von bloßen Einzeltätern auszugehen.

Der heute 19-jährigen Sabine Dardenne, einem Opfer, schenkte man erst einmal keinen Glauben, als sie ihre Leidensgeschichte erzählte. Der einzige Richter im Fall Dutroux, der die Verbindungen zu Justiz- und Politgranden verfolgte, Jean-Marc Connerotte, beging den Fehler, sich mit den Vetretern einer Nichtregierungsorganisation, die sich um die Opfer des Verbrechers kümmert, zu einem Abendessen zu treffen. Seine Vorgesetzten orteten sogleich einen Interessenkonflikt und zogen Connerotte von dem Fall ab. Es ist so, als wollte die Gesellschaft kollektiv verdrängen, dass es solche Verbrechen gibt, und als wollte sie kollektiv verdrängen, dass vermeintliche "Spitzen der Gesellschaft" in sie involviert sein können. Solange wir uns aber weigern, unmenschliche Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, werden weiterhin Kinder verschwinden und einem unmenschlichen Schicksal ausgesetzt sein. (Jan Marot/DER STANDARD/Album, Printausgabe, 18.8.2007)