Wenn ein Türkei-Urlaub mit Nachhilfeunterricht begonnen wird, darf man davon ausgehen, dass es die Gastgeber ernst meinen: Nämlich ernst mit dem Versprechen, ein kleines Abenteuer anbieten zu können und dabei Plätze anzusteuern, die einem sonst verborgen bleiben. Der Besuch der Reedereien bei Bodrum beginnt also mit einer Einführung in die "Geschichte des türkischen Bootsbaus": Ein Motorsegler aus Holz, der historischen Fracht- und Kriegsschiffen nachempfunden ist, wird "Gulet" genannt. Wenn das Heck allerdings nicht spitz zulaufend, sondern abgerundet ist, nennt man das Boot auch "Ketsch". "Eine Ketsch hat mehr Lager- und Stauraum und mehr Platz für Kajüten als eine typische Gulet", erklärt Bayram Ilhan, der nun seit neun Jahren mit seinem Boot "Kaptan Ilhan" auf der Ägäis und im übrigen Mittelmeer unterwegs ist.
Früher wurden in den Gulets Oliven und Wein entlang der türkischen Küste transportiert. Heute ist diese Fracht zwar auch noch mit an Bord, doch nicht als Handelsware, sondern zur Verpflegung der Gäste. Denn die begeben sich mit den Zweimastern immer häufiger auf die sogenannte "blaue Reise". Ein Trend, den sich der 55-jährige Bayram Ilhan zunutze gemacht hat, der früher als Schwammtaucher hart gearbeitet hat und nun ein 24 Meter langes Boot steuert. Zusammen mit dem Matrosen Hasan Coskun und dem Koch Zeynal Aydogan kümmert sich Bayram Ilhan heute um Reisende, die sich auch für das Land selbst interessieren und mit ihm in See stechen.
Ein Hafen, den er oft verlässt, ist eben jener von Bodrum, dem früheren Halikarnassos, wo einst der Historiker Herodot geboren wurde. Heute reiht sich in der Altstadt allerdings ein Souvenirgeschäft an das andere, es werden Bademoden und Lederwaren verkauft, mehr oder weniger lohnende Fischrestaurants und Boutiquen teilen sich die übrige Kundschaft.
Blaue Stadtflucht
Wer mit der "Kaptan Ilhan" oder einer anderen Gulet die blaue Reise unternimmt und hinaus in den Golf von Gökova unterwegs ist, bleibt meist nicht lange in der Stadt. Kapitän Bayram lässt dafür seinen Matrosen Hasan Coskun in den schönsten Buchten, die entlang der Küste zu finden sind, Anker werfen. Jeden Tag ist dann ein neuer "Privatpool" nur einen Hechtsprung weit von der Reling entfernt, für die Zaghaften montiert Hasan aber auch gerne die bequeme Badeleiter am Heck.
Die Gäste übernachten üblicherweise in recht kleinen Zwei-Personen-Kabinen – die sind aber immerhin mit einer eigenen Dusche ausgestattet. Die Romantiker unter ihnen ziehen dennoch die blauen Schaumstoffmatten an Deck vor, der freie Blick auf den Sternenhimmel ist eine mehr als großzügige Entschädigung für den beleidigten Rücken. Die besten Monate für eine blaue Reise sind Mai und Juni sowie September und Oktober, weiß der 37-jährige Murat Demirel, der als Reiseleiter schon viele Touren begleitet hat. Im Hochsommer steigen die Temperaturen nämlich auf über 40 Grad, und da die Kabinen auf der "Kaptan Ilhan" nicht mit einer Klimaanlage ausgestattet sind, wird es drinnen oft unerträglich heiß.
Den Buchtsuchern und Badesüchtigen kommt eine blaue Reise entlang der Südwestküste der Türkei sowieso entgegen. Die Dacta-Halbinsel ist aber zugleich reich an archäologischen Fundstätten. Und Murat Demirel kennt die Geschichten dazu. Da wäre etwa jene von der berühmten Aphrodite von Kniodos: Die Legende besagt, dass Praxiteles, der Bildhauer, eigentlich zwei Skulpturen schuf – die angezogene und die entkleidete. Eine davon war für die Insel Kos und die andere für die Stadt Kniodos bestimmt, und da die Delegation von Kos den Bildhauer zuerst erreichte, wählten sie die angezogene, züchtigere Liebesgöttin. Den Bewohnern von Kniodos blieb somit nur die nackte, die schließlich in einem Rundtempel aufgestellt wurde. Damals reichte das für einen handfesten Skandal, dürfte die Statue doch der erste großplastische Frauenakt in ganz Europa gewesen sein.
Und unter der Erde?
Wenn Murat Demirel also darauf verweist, dass es im Land "längst nicht nur Troja, Pergamon, Ephesos oder Muskat, sondern über 2500 antike Stätten, die über der Erde zu bewundern sind – und noch mindestens so viele unter der Erde" gibt, braucht er gar nicht erst weit zu schweifen, um das zu beweisen. Eine der am besten erhaltenen Ruinenstädte an der Südküste ist die Stadt Kaunos. Ihre lykischen Bewohner wurden in einzigartigen Felsengräbern bestattet, was der Stätte mittlerweile den Titel eines Unesco-Weltkulturerbes einbrachte.
Die Entfernungen, die man bei dieser blauen Reise zurücklegt, sind also eher gering. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass vor allem um das Delta des Dalyan-Flusses wirklich jeder auf seine Kosten kommt. So ist der Ausflug zum Koycegiz-See und zum Delta, in dem zahlreiche Vogelarten nisten, nicht nur landschaftlich reizvoll, sondern vom Boot aus buchstäblich naheliegend. Mindestens ebenso naheliegend wie der direkt anschließende Iztuza-Strand, der sonst nur mühsam mit dem Sammeltaxi oder einem Fahrrad erreicht werden kann. Besser erschließen wollte man diesen Traumstrand bislang auch deshalb nicht, weil er als Brutgebiet für Riesenschildkröten unter Naturschutz steht.
Wer sich dann auch noch im 40 Grad warmen Schlamm des hier natürlich vorkommenden Sole- und Schlammbeckens gesuhlt hat, kennt bereits die zweitwichtigste lokale Wellness-Tradition nach dem Hamam. Der Eintritt ins Bad von Sultaniye kostet gerade einmal zwei Euro, und das Bad soll gegen Rheuma genauso wirksam sein wie zur Bekämpfung von unreiner Haut.
Nicht weit von Sultaniye entfernt, am östlichen Ufer des Dalyan-Flusses, finden sich einige Boutiquehotels, in denen Massentourismus noch ein Fremdwort ist. Und wer sich noch in einem der kleinen Restaurants – die natürlich auch am besten per Boot erreicht werden können – süß gefüllte Gözleme und ein Glas Ayran servieren lässt, der hat längst nicht nur sprichwörtlich "den Finger im Honig und die Seele im Paradies." (Florian Flieger/Der Standard/Printausgabe/11./12.8.2007)