Das ehemalige Esther-Kino wurde restauriert und zum Hotel Cinema umfunktioniert.

Foto: bauhaus-center.com
Grafik: Der STANDARD
Irgendwie täte diesem Museum eine Klimaanlage gut. Doch dieser Wunsch wird, so weiß man, so bald nicht in Erfüllung gehen. Man müsste drei Monate warten.

Dennoch: Die Gegend westlich und östlich des Dizengoff Square im Zentrum Tel Avivs ist das schönste Freiluftmuseum der Welt. Vor vier Jahren wurden 4000 Gebäude von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt, für hitzebeständige Stadtwanderer veranstalten Shlomit und Micha Gross vom Bauhaus Center Tel Aviv Führungen durch die "Weiße Stadt": Ihre kleinen Reisen geleiten in kaum einer Stunde durch die Architektur und die Abenteuer der Moderne. Zu besichtigen ist die Geschichte einer radikalen ästhetischen wie - zumindest im Anspruch - politischen Utopie.

Das moderne Tel Aviv ist die Stadt der Bauhausarchitekten und des International Style. Der Aufstieg der Nazis und die ökonomische Krise zu Beginn der 1930er-Jahre veranlasste viele junge Architekten aus ganz Europa, nach Palästina zu kommen und hier die Prinzipien von Corbusier, Gropius, Mies van der Rohe und Hannes Mayer zu verwirklichen. Shmuel Mistjechin kam direkt vom Bauhaus aus Deutschland nach Tel Aviv, Genia Averbouch und Dov Carmi hatten in Brüssel und Gent studiert, Shmuel Berenstein kam von Corbusier aus Paris, Joseph Noifeld hatte mit Erich Mendelsohn in Berlin gearbeitet.

Bei allen Differenzen ging es um klares, funktionales Bauen ohne Dekor im Geiste technischer Rationalität und Modernität, allerdings nicht als ästhetisches, sondern auch als politisches Projekt. Es ging um Architektur zum Aufbau einer neuen Gesellschaft mit jenem egalitären, demokratischen und sozialistischen Anspruch, wie er auch die Kibbuzbewegung kennzeichnete.

An städtebauliche Traditionen war die junge Generation der Architekten nicht gebunden, und die Nachfrage war enorm. In den 1920er- und 1930er-Jahren war das aus einem Stadtteil Jaffas hervorgegangene Tel Aviv in einer rasanten städtebaulichen Entwicklung begriffen: Zählte die Stadt 1920 noch kaum einige tausend Einwohner, so lebten zehn Jahre später bereits 34.000 vor allem aus Europa angekommene Immigranten in der Stadt. Zur Gründung Israels waren es weit über 150.000 Menschen, die versorgt und untergebracht werden mussten. Von Mitte bis Ende der 1930er-Jahre wurden über 4000 Einfamilien- wie Apartmenthäuser und öffentliche Gebäude im neuen Stil errichtet.

Erster Bürgermeister Tel Avivs war Meir Dizengoff (1861-1937), mit der Gründung der Stadt verwirklichte der aus Russland stammende Dizengoff seinen Lebenstraum "von einer ersten modernen jüdischen Stadt in Palästina". 1925 lud er den schottischen Stadtplaner Patrick Geddes nach Tel Aviv ein, Geddes entwarf einen einfachen aber wirksamen Stadtentwicklungsplan. In nordsüdlicher Richtung durchdringen breite, parallel verlaufende Boulevards die Stadt, kleinere Straßen in westöstlicher Richtung sorgen für die notwendige Durchlüftung mit frischer Meeresluft. Für die Wohnviertel brachte Geddes die Idee einer Gartenstadt aus England mit und adaptierte sie für die schwierigen klimatischen Verhältnisse vor Ort. Jedes Gebäude sollte für sich stehen und über einen kleinen Vorplatz mit Garten verfügen. Reihenhäuser wurden verboten, Flachdächer und einfache Fassadengestaltung vorgeschrieben.

Mit einigen Einschränkungen gilt die grundlegende Planung von Geddes bis heute. Der Dizengoff-Platz selbst ist freilich seit den 1970er-Jahren eine architektonische Katastrophe. Nachdem der Verkehr nicht mehr zu bändigen war, wurden eine Unterführung und eine zweite Fußgängerebene errichtet, die allerdings, da heiß und schattenlos, von den Anwohnern nicht akzeptiert werden und die Gebäude ringsum quasi unter den Platz versenken.

Ein Bild von der ursprünglichen Gestaltung von Genia Averbouch (1909- 1977), die 1934 mit ihrem Entwurf die Ausschreibung gewonnen hatte, kann man sich nur noch anhand alter Fotografien machen: Sie zeigen einen offenen, mediterranen Platz, der zum Verweilen einlädt. Umsäumt ist das Zentrum mit Grünfläche von abgerundeten Gebäuden mit den typischen, geschwungen Balkonen und Säulen wie dem damaligen Esther-Kino, das vor einigen Jahren renoviert und zum Hotel Cinema umgestaltet wurde. "Heute hält sich hier kaum ein Geschäft", berichtet Micha Gross, "seit Jahren wird über einen Rückbau gestritten." Manch ein Stadtplaner, so lautet sein bitterer Witz, wünsche sich eine Hamas-Rakete, um die Fehlplanung und die Endlosdiskussion zu beenden.

In unmittelbarer Umgebung findet sich jedoch eine Vielzahl von Beispielen für Bauhaus-Architektur erster Güte. Das großzügige Apartmenthaus von Pinhas Hutt etwa liegt kaum 200 Meter westlich vom Dizengoff Square in der Hovevei-Zion-Straße. Betont werden programmatisch die Asymmetrie und die horizontalen Linien wie bei dem kaum zwei Gehminuten entfernten Thermometerhaus von Jehuda Liulka in der Froug Street. Seinen Namen erhielt es durch die auffällige, vertikal akzentuierte äußere Gestaltung des Stiegenhauses mit dreieckigen Betonplatten. Die flossenartigen Gebilde sind optisch signifikant, doch scheinen sie eher dekorativ als funktional.

Überquert man die Frishman Street, gelangt man zu einem weitläufigen Gebäudekomplex von Arieh Sharon (1900- 1980). Der aus Polen gebürtige Architekt hatte am Bauhaus in Dessau studiert. 1936 errichtete er im Auftrag der Stadt einen dreistöckigen Gemeindebau, die Arbeitersiedlung "Hod", was als Abkürzung einerseits die Nummer der Siedlung bezeichnet, aber auch "Pracht" bedeutet. Die (damals) preisgünstigen Zweizimmer-Wohnungen waren für Arbeiterfamilien und ärmere Immigranten gedacht und sind um einen schattigen Innenhof mit Kindergarten und Leseraum errichtet. Der Garten wurde gemeinschaftlich gepflegt.

Wer wohnte hier in den späten 1930er-Jahren? Vor allem privilegierte Mitglieder der Histadrut, der Gewerkschaftsbewegung, Schauspieler und Schriftsteller mit politischem Engagement für die Arbeiterbewegung - aber keine Arbeiter, für die das kommunale Projekt ursprünglich gedacht war. Ab 1980 wurden die Wohnungen frei vermietet. An der Innenseite wurden die Balkone großteils verbaut, die Fassade verfiel zusehends wie der Zusammenhalt der Wohngemeinschaft, was dem Ende der architektonischen wie sozialen Utopie gleichkam.

Im Gegensatz dazu gelten die privaten Apartmenthäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite heute als Musterbeispiel für eine gelungene Erhaltung. Die Stadtverwaltung hatte einen ökonomischen Trick bei der Bewahrung des Erbes der Moderne, zumindest seiner äußeren Form, angewandt: Im Gegenzug zur Renovierung der Fassade durften die Eigentümer auf dem Flachdach eine weitere Wohnung errichten und abverkaufen. Am Ende der Führung, nach kaum einer Stunde, ist man auch am Ende der großen Utopie angelangt: Der Quadratmeterpreis der neuen Wohnungen ist nahezu unerschwinglich. (Ernst Strouhal/Der Standard/RONDO/3.8.2007)