Und jetzt alle: "Istanbul ist die kommende Modehauptstadt!" Nein, an Selbstbewusstsein mangelt es ihnen nicht, den türkischen Textilindustriellen und auch nicht dem Staatsminister für Außenhandel, Kürsad Tüzmen. Er steht auf dem Laufsteg des wichtigsten Wettbewerbs für den einheimischen Designernachwuchs und wirft diese Vision mit markiger Stimme ins weite Rund. Der Applaus, der zurückhallt, signalisiert pure Zustimmung.
Entwurf von Atil Kutoglu

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Man könnte das schnell als Größenwahn abtun, betrachtet man die Koordinaten der Türkei im weltweiten Modesystem: ein billiges Produktionsland. Ein Paradies für Liebhaber gefälschter Markenware. Doch seit ein paar Jahren arbeitet die Textil- und Bekleidungsindustrie des Landes umtriebig an einem Imagewandel, baut eigene Marken auf, fördert Designer. Das Ganze erinnert ein wenig an die Aufbruchstimmung in Italien vor 30 Jahren, als mit Unterstützung der Stoffproduzenten ein kreativer Gegenpol zur Dominanz der Pariser Mode entstanden ist.
Kreation von Özlem Süer

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Ist also Istanbul tatsächlich das Mailand von morgen?
In Nisantasi, einem der Nobelvierteln der Stadt, trifft man sie, die Modemacher, die aus den Träumen Realitäten reifen lassen sollen. Özlem Süer, Arzu Kaprol oder auch Nejla Güvenç und ihr Label Nej. Seit fünf Jahren kreiert die 37-Jährige eine eigene Linie, in der, wie sie sagt, "anatolische und internationale Einflüsse ineinanderfließen". Stolz zeigt Nejla Güvenç Details wie die großen, markanten Steppungen, die sie über den Einsatz einer eigentlich für Schuhe ausgelegten Nähmaschine erreicht.
Label Nej von Nejla Güvenç

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"Istanbul ist Trauer, Istanbul ist Freude. Istanbul ist alt, Istanbul ist jung. Istanbul ist Hoffnung, Istanbul ist Leidenschaft, Istanbul ist Liebe", sprudelt die Begeisterung aus ihr heraus, befragt man sie zu den Vorzügen ihrer Heimatstadt. Sie preist das Nachtleben, die Kunstszene. Und in der Tat hat sich Istanbul seit geraumer Zeit unter den angesagten Szenemetropolen Europas etabliert.
Auseinandersetzung Hussein Chalayans mit dem Islam.

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Ein paar Stockwerke unter dem "360 Grad", einem der Hot-Spot-Restaurants mit atemberaubendem Panoramablick im Stadtteil Galatasaray, betreibt Banu Bora ihr Atelier. Sie studierte in London und arbeitete dort unter anderem bei Modeschöpfer Jaspar Conran. 2006 stellte sie erstmals ihr eigenes Label vor. "An Istanbul fasziniert mich das Unfertige, die Stadt verändert ständig ihr Gesicht.
Entwurf von Banu Bora

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Das setzt Energien frei." Banu Bora führt damit ein Argument ins Feld, mit dem auch Berlin derzeit um einen höheren Platz im Ranking der Modemetropolen zu punkten versucht. Ihre Arbeitsweise erklärt sie so: "Aus allen Skizzen wähle ich die kommerziellen und realistischen aus und nicht zwingend die schönsten." So würden wohl nicht viele türkische Designer handeln. Denn hier dominiert eher die Berauschtheit am Detail das OEuvre, als dass eine klare Linie es kompatibel mit westlichen Ästhetikvorstellungen macht. Vielleicht das derzeit größte Handicap auf dem Sprung zu mehr Internationalität.
Banu Bora

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Von einer Fokussierung auf orientalische Märkte will hier aber keiner etwas hören. Und auch, ob der türkische Name nicht Barrieren in den Köpfen der Menschen errichte, wird von sich gewiesen. Die Mode kenne keine Vorurteile, heißt es immer wieder. Banu Bora immerhin spürte eine gewisse Überraschung, wenn man von ihrer Herkunft erfuhr. "Man hätte wohl von einer Türkin etwas Provinzielleres erwartet", lacht sie heute.
Wie schwer es anscheinend fällt, die kulturelle Opulenz Istanbuls nicht eins zu eins in Kleider umzusetzen, demonstrieren auch die jungen Designer.
Hussein Chalayan

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Einmal im Jahr ruft der Bekleidungsverband ITKIB, die Istanbul Textile and Apparel Exporters Associaton, einen Nachwuchswettbewerb aus. Und auch wenn die Entwürfe nicht viel realitätsentrückter sind als auf dem Abschlussdefilee einer Meisterklasse in Wien, Paris oder London, sticht doch ein gewisser Hang zur Dramatik ins Auge. "Eine orientalisch-verspielte Avantgarde", so umreißt Atil Kutoglu die Handschrift seiner Landsleute. Er selbst verließ nach der Schulzeit seine Heimat, lebt seither in Wien und präsentiert seine Kollektion bei der Fashion Week in New York.
Hussein Chalayan

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Atil Kutoglu gehört zu den türkischen Modemachern, die es über den Umweg ins Ausland zu internationaler Reputation gebracht haben. Wie Hussein Chalayan (London). Wie Dice Kayek (Paris). Wie Rifat Ozbek (Mailand). "In Wien habe ich die Kunst des Weglassens kennen gelernt", sieht Kutoglu einen Vorteil in der Distanz zur eigenen Kultur. Dennoch sei es genauso falsch, seine Wurzeln zu verleugnen. "Das Türkische in die moderne Mode einfließen zu lassen, bot mir eine Möglichkeit, mich von meinen Kollegen zu unterscheiden."
Hussein Chalayan

Foto: Hersteller

Bei allem Für und Wider, mit dem sich Istanbuls Ambitionen letztlich betrachten lassen, ein Argument kann noch von unschätzbarem Vorteil sein. "Istanbul als Brücke zwischen zwei Kulturen, das ist einmalig auf der Welt", schwärmt Ece Ege, die Designerin hinter Dice Kayek. Mittelfristig gesehen werden an dieser Schnittstelle wichtige Fragen geklärt werden müssen. Nicht nur modische.
Hussein Chalayan
(Axel Botur/Der Standard/rondo/27/07/2007)

Jenseits des Dekors
Interview mit Hussein Chalayan

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