Das von der Koalitionsregierung forcierte Vorschuljahr "nur für Deutschlerner" widerspricht allen international erprobten Beispielen für eine erfolgreiche Vorschulpädagogik, meint Martin Schenk.

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Gut, dass in der Frühförderung endlich etwas passiert. Aber müssen die unter den vielen möglichen Modellen gerade das schlechteste nehmen?", kommentiert eine Pädagogin aus unseren integrativen Schulen die von ÖVP-Chef Molterer als "geniale Lösung" gepriesene großkoalitionäre Einigung im Streit ums Vorschuljahr. Gute Frage.

Ein paar Fakten: Frühförderung betrifft nicht nur Kinder mit Bedarf an Sprachunterstützung, sondern allgemein Kinder aus sozial schwächeren Elternhäusern. Bei den Vier- bis Sechsjährigen gehen Kinder armutsgefährdeter Eltern deutlich weniger in den Kindergarten (57 Prozent) als nicht-arme Kinder (75 Prozent). Weiters kommen von denjenigen, die beim Lesen am schlechtesten abschneiden, mehr als zwei Drittel aus deutschsprachigen österreichischen Familien. Rund 14 Prozent der Schüler mit Migrationshintergrund erreichen beim Pisa-Test sogar die beiden höchsten Leistungsstufen. Ganze 45 Prozent liegen im Durchschnitt aller getesteten 15-Jährigen.

Das heißt: 59 Prozent der Migranten lesen gleich gut oder besser als der Durchschnitt der Schüler deutscher Muttersprache. Hier ist nicht der ethnische, sondern der sozioökonomische Hintergrund bestimmend. Die sieben Prozent der Fünfjährigen, die jetzt nicht in einen Kindergarten gehen, kommen großteils aus Familien mit niedrigem sozialen Status, darunter auch viele Migranten.

Die Zeit zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr birgt große Chancen, sozial benachteiligte Kinder individuell zu fördern. Eine gute integrative Kinderpädagogik ist in dieser Phase ein schützender und stärkender Faktor für das Selbstbewusstsein der Kinder. Und sie hilft, die in den Kindern angelegten Möglichkeiten spielerisch zu entfalten. Diese Entwicklungsphase zwischen drei und sechs ist ein "Window of Opportunity", um mit einfachen Maßnahmen etwas gegen die Vererbung von Armut zu tun.

Wichtig ist eine integrative Pädagogik, die sowohl mit benachteiligten Kids als auch mit Sprachen so umzugehen weiß, dass dabei alle profitieren. Die Frage, wie man am sinnvollsten solche schwächeren Knirpse stärken kann, ist ja nicht neu. Die Idee, homogene Gruppen mit den Schwächeren zu bilden und diese im Namen der Integration von den Stärkeren zu segregieren, leider auch nicht. Es waren stets die Gleichen, die von Schwächeren "Integration" forderten, um sie dann - wenn's ernst wurde mit der Umsetzung - in Segregationsmodelle zu stecken.

Deshalb entspricht ein Vorschuljahr "nur für Deutschlerner" nicht den international erfolgreichen Beispielen einer Frühförderung für alle mit allen. Da gibt es Länder mit verpflichtender oder aber auch freiwilliger Vorschule. Eines ist ihnen aber gemeinsam: In den Ländern, in denen die Aufstiegschancen für Kinder unabhängig von ihrer Herkunft besser gewährleistet sind, wird vor allem die starke individuelle Förderung von Kindern in durchmischten Gruppen praktiziert. Und die Vorschulförderung nicht "ethnisiert".

Daran krankt ja unser Schulsystem generell: Reflexartig werden bei jedem Problem Kinder-Sondergruppen gebildet, und diesen mit Sonderprogrammen Sonderlehrer zugewiesen. "Wer nicht in das Schema passt, wird in eine Nische geschoben und dort von Spezialisten unterrichtet. Das ist ein System mit abschiebender Wirkung", stellt Werner Specht von der Forschungsabteilung für Schulentwicklung, fest.

Nun hat man sich also einmal mehr für das Stigmatisierungsmodell entschieden: Frühförderung auf Basis von Defizitpädagogik, Testbatterien für vierjährige Knirpse und Sondergruppen, statt auf Fähigkeiten zu setzen, Selbstbewusstsein zu fördern und professionelle Sprachförderungspläne zu erarbeiten wie beispielsweise in Toronto/Kanada.

Stichwort Logik: Ein Kindergartenjahr für alle sei eine Zwangsverpflichtung, hieß es, im Gegensatz dazu sei die Defizittestung eine Hilfe für diejenigen, die es brauchen. Ein seltsames Argument. Jetzt gehen 93 Prozent der Fünfjährigen - offensichtlich - freiwillig in den Kindergarten. Nähme man die restlichen sieben Prozent einfach dazu - was für ein Zwang wäre das denn für die 93Prozent, die eh schon gerne im Kindergarten sind? Und das ginge alles ohne Testungen und sprachpolitische Rasterfahndung. Dann gäbe es schlicht Verwaltungsstrafen als Sanktion wie für alle, die der Schulpflicht nicht nachkommen - statt Sonderstrafen für "Minusgruppen" wie die Kürzung der Familienbeihilfe.

Und was die "Gebührenfrage" betrifft: Wenn die Vorschule verpflichtend sein soll, dann darf sie selbstverständlich auch nichts kosten. Zudem müssen, wenn Sprachförderung im Mittelpunkt steht, die Schuleinschreibungsphase professionalisiert und Förderpläne erarbeitet werden - wofür die Volksschuldirektoren allerdings in keiner Weise gerüstet sind.

Noch einmal also: Wieso wählt man aus einer Reihe von Frühförderungsmodellen just das schlechteste? Ich weiß es nicht. Das Bessere ist der Feind des Guten, sagt man. Wo aber sitzt der Feind? Ich weiß es nicht. Vielleicht im versteckten Ressentiment, im Mangel an pädagogischem Know-How, im Zeitdruck politischer Entscheidungsfindung, in der Verweigerung von Budgetmittel ...?

Schade jedenfalls um eine vergebene Chance, mit einfachen Maßnahmen die Vererbung von Armut zu vermindern. Dafür muss man wirklich nicht das schlechteste Frühförderungsmodell nehmen, dafür wäre das beste gerade gut genug. (DER STANDARD Printausgabe, 18. Juli 2007)