Fred Wander, "Hôtel Baalbek". Roman. Mit einem Nach-wort von Erich Hackl. € 20,50/228 Seiten. Wallstein Verlag, Göttingen 2007

Buchcover: Wallstein
Mit Hôtel Baalbek publiziert der Wallstein Verlag nach Der siebente Brunnen und der überarbeiteten Autobiografie Das gute Leben nun bereits den dritten Text des im letzten Jahr verstorbenen Schriftstellers Fred Wander.

Der Roman war erstmals 1991 im Aufbau Verlag erschienen, konnte aber, wie Erich Hackl in seinem sehr persönlich gehaltenen Nachwort feststellt, in einer Zeit, in der "die gewöhnlichen deutschen Literaturrezensenten in einer Mischung aus Argwohn, Euphorie und Rachsucht eifrig damit beschäftigt waren, die Literatur der DDR (samt ihren Verlagen) abzuwickeln", nicht adäquat beurteilt werden. Mit der Neuedition - und etwas Distanz - werden die Konturen von Wanders Gesamtwerk nun deutlicher sichtbar.

Wanders KZ-Roman Der siebente Brunnen (1971), lange Zeit im Vordergrund der Betrachtung, steht nämlich mit Hôtel Baalbek in engem Zusammenhang. In beiden Fällen berichten Überlebende über ihre getöteten Freunde und entreißen sie auf diese Weise dem Vergessen; in beiden Fällen finden sie dabei zu sich selbst.

Während der Erzähler im Siebenten Brunnen aber weitgehend anonym bleibt und vornehmlich über seinen Bericht über die Opfer fassbar wird, ist der Erzähler in Baalbek ein sehr deutlich erkennbarer junger Mann, der sich in der Hitze des französischen Sommers 1942 auf der Suche nach seiner Identität befindet.

Der junge österreichische Jude ist in Marseille mitten unter die versprengten Flüchtlinge aus vielen Ländern Europas geraten, die verzweifelt - und meist vergeblich - auf ein Visum warten, um über die "noch offene Hintertür Europas" im Vichy-Frankreich zu flüchten. Zwar befindet auch er sich in Gefahr; die Neugier am Schicksal der anderen, seine Offenheit für das Leben und die Erfahrungen anderer, sind jedoch stärker.

Als er Katja trifft, die sich für die Résistance entschieden hat und ihr Abtauchen in den Untergrund vorbereitet, wird seine fehlende politische (und sexuelle) Reife deutlich, die auch durch seine hilfsbereite und gewinnende Persönlichkeit nicht ausgeglichen werden kann. Auch in der Retrospektive sieht er dies als Defizit: "Das Schuldgefühl, nicht rechtzeitig in den Widerstand gegangen zu sein, hat mich nie verlassen!"

Die Leistung des Erzählers besteht allerdings viel mehr in der Beobachtung und - daraus folgend - in der Aufzeichnung des Erlebten und der (fast unmöglichen) Herstellung einer Chronologie. Die drei Erzählebenen, Hôtel Baalbek im Marseille von 1942, nachfolgende immer nur kurz eingeblendete Lagererfahrungen, sowie die Suche nach Erklärungen und Spuren zusammen mit früheren "Baalbekmenschen" zwanzig Jahre später (die Situation im 1975 erschienenen Roman Ein Zimmer in Paris) sind eng miteinander verschränkt. Das macht die Lektüre oft zu einem Schockerlebnis.

Während die Gequälten der Lager im siebten Brunnen oft über das Vergangene erzählen, kommt es in Hôtel Baalbek in der Antizipation des Schreckens immer wieder zu abrupten Brüchen: "Sie will leben, die kleine Judith, und schaut mit brennenden Augen in die Welt; in all den Jahren hab ich diesen Blick nicht vergessen, und bald wird sie selber brennen, in den Öfen von Auschwitz."

Damit wird die Erfahrung des "Transit" (so der Titel eines ebenfalls im Marseille dieser Zeit angesiedelten Romans der Schriftstellerin Anna Seghers) Teil der Entwicklung, die nach Auschwitz führt, ja das KZ deutlich vorwegnimmt: "Es herrschte bereits Lageratmosphäre, wir waren wie Aussätzige verbannt, waren Parias geworden, außerhalb der Gesellschaft, waren in den Orkus geworfen. Jedes individuelle Schicksal hatte aufgehört."

Der oft thematisierte Gegensatz von Lager und Exil, von "drinnen" und "draußen", wird durch Wanders komplexe narrative Vermittlungsstrategien aufgelöst. Gleichzeitig insistiert die geradezu sinnenfrohe Darstellung, die den Leser ungestüm in das bunte Chaos der Altstadt bzw. des Hafenviertels der südfranzösischen Metropole reißt ("Marseille, lebendig, lachend und gleichgültig, im Verrecken schön"), sehr hartnäckig auf der Bedeutung/Kostbarkeit des menschlichen Lebens, das seinen Wert in sich selbst trägt: "Und wie kann man lachen, das Ende vor Augen? Wie kannst du lachen, wenn du morgen stirbst, haben wir uns später oft gefragt. Sie konnten es, diese Menschen konnten lachen, nur Leute, die voll Leben waren, konnten das!" (Walter Grünzweig/ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 07./08.07.2007)