Nach dem ersten Schock über die blutigen Anschläge in der U-Bahn und in einem roten Doppeldecker kam für die britische Bevölkerung im Juli 2005 gleich ein zweiter Schock: Die Terroristen waren hausgemacht, Kinder von Einwanderern aus Pakistan und der Karibik. Dass sie als Hilfslehrer gearbeitet oder mit Freunden den urenglischen Sport Cricket gespielt hatten, schützte sie nicht vor der islamistischen Verblendung. Bei den Autobomben von London und Glasgow waren zwar nur wenige Verletzte zu beklagen. Doch auch diesmal sitzt der Schock tief.
Alle acht Verhafteten waren entweder Ärzte, Medizinstudenten oder Laboranten im Nationalen Gesundheitssystem NHS, das in den Herzen vieler Briten einen besonderen Platz hat. Fast alle waren Migranten – aus ihren Heimatländern Indien, Jordanien und Irak eigens angeworben, um britische Patienten zu heilen. Freunde und Verwandte sind ratlos. Bilal Abdulla, einer der festgenommenen Verdächtigen, sei heilfroh gewesen, seinem Heimatland Irak 2004 entkommen zu sein, berichtet ein Onkel. Offenbar brachte der junge Doktor aber auch islamistischen Hass mit nach Schottland.
Keine Unterprivilegierten
Zerstört ist nach den fehlgeschlagenen Anschlägen in London und Glasgow einmal mehr der Mythos, bei islamistischen Extremisten handle es sich überwiegend um arme, schlecht ausgebildete Unterprivilegierte. Der Psychologe Andrew Silke von der Universität Ostlondon hat für ein Buch über Selbstmordattentäter die Polizeiverhöre mit 180 Mitgliedern von Al-Kaida ausgewertet. Zwei Drittel hatten eine höhere Schule besucht, ein Zehntel sogar eine Universitätsausbildung abgeschlossen. 70 Prozent waren verheiratet und hatten Kinder.
Silkes Fazit: „Al-Kaida kommt aus der Mittelschicht.“ Auch bei Selbstmordattentätern handle es sich nicht um Verrückte, sagt Silke, „sondern um Angehörige einer Gruppe, die ihre Mitglieder nach streng rationalen Kriterien einsetzt: als Kundschafter, als Bombenbauer oder eben als Selbstmörder“.
Komplexes Phänomen
Auch, dass die mutmaßlichen Attentäter im Gesundheitswesen arbeiteten, ist nicht neu: Osama bin Ladens langjähriger Terror-Partner Ayman al-Zawahiri ist ausgebildeter Arzt. Die beiden Paten haben keinen messbaren Einfluss auf die heutigen Dschihadisten. Islamische Militanz sei ein komplexes Phänomen, sagt Jason Burke, Autor von „Al-Quaida – the true story of radical Islam“. „Es gibt keine eindeutig definierbare Gruppe.“ Drei Beispiele von britischen Terror-Gruppen bestätigen Burkes Meinung.
Vor Gericht stehen derzeit etwa die sechs Männer, die am 21. Juli 2005 erneut für Angst und Schrecken in der Londoner U-Bahn sorgten, nachem sich vierzehn Tage zuvor vier Selbstmordattentäter in drei Londoner U-Bahnen und einem Bus in die Luft sprengten und 52 Menschen töteten und Hunderte verletzten. Die Anschläge vom 21. Juli scheiterten, die mutmaßlichen vier Attentäter und zwei Hintermänner wurden gefasst.
Integration gescheitert
Bei den Angeklagten handelt es sich überwiegend um Kinder von ehemaligen Asylwerbern aus den Ländern am Horn von Afrika. Anders als bei den Rucksack-Bombern aus Nordengland war ihre Integration fehlgeschlagen; mindestens ein Mitglied des Quartetts war im Gefängnis in Kontakt mit radikalen Hasspredigern geraten. Die Geschworenen beraten seit vergangener Woche über das Urteil gegen die sechs Männer.
Im August 2006 verhaftete die Polizei in und um London zwei Dutzend Männer, die angeblich Bombenattentate auf bis zu neun Transatlantik-Flieger geplant hatten. Elf Tatverdächtige warten derzeit noch auf ihren Prozess. Unter ihnen sind mindestens zwei ehemalige Studenten. Wahid Zaman, 23, leitete sogar die Islam-Vereinigung der Fachhochschule London-Metropolitan. Der anderen Mitglieder der Gruppe arbeiteten als Automechaniker, Taxifahrer, Buchhalter und Verwaltungsangestellter. Im Nordlondoner Stadtteil Walthamstow besuchten viele dieselbe Moschee. Kinder von Einwanderern, Weiße, die zum Islam übertraten – diese Gruppe spiegelt Londons multikulturelle Gesellschaft wieder.