Am Anfang aller Berechnungen war der Rechenschieber und damit verbunden mühevolle Kleinarbeit: Die Machbarkeit von "Ab initio"-Simulationen ist nicht zuletzt auf die rasante Computerentwicklung zurückzuführen. Seit den 1990er-Jahren beschäftigt sich das Center for Computational Materials Science (CMS) mit der Elektronenstruktur von Materie. Das "Vienna Ab Initio Simulation Program", kurz VASP, wird heute weltweit verwendet.


Wer Halbleiter, Legierung oder Katalysator sagt, muss auch "ab initio" sagen. Das bedeutet "von Anbeginn" und steht für eine Simulation, die bis auf Ebene der Elektronen und Atome vordringt.
Die meisten – gerade für die Industrie nützlichen – Materialeigenschaften basieren auf der Schrödinger-Gleichung. "Sie beschreibt, wie sich ein Elektron bewegt und was es tut", verkürzt Georg Kresse vom Institut für Materialphysik der Universität Wien die Erklärung. Mit der Methode werden Ausschnitte der Natur Elektron für Elektron im Computer nachgebaut. So können im Simulationsmodell atomistische Wechselwirkungen und Verhalten beleuchtet, verstanden und in Zukunft hoffentlich auch verbessert werden.

Wer quantenmechanische Computersimulation sagt, muss auch CMS sagen. Am Center for Computational Materials Science (CMS), einem Verein von TU und Universität Wien, wurde vor zehn Jahren eine extrem erfolgreiche Software entwickelt. Jürgen Hafner, Mitbegründer des CMS, ist stolz auf VASP: "Es setzt Standards in Effizienz, Genauigkeit und Stabilität" und hat bereits mehr als 3000 NutzerInnen in Akademie und Industrie. Die Lizenznehmer haben klingende Namen wie MIT, Oxford, Cambridge und Max Planck oder Ford, General Electric, Toyota sowie Intel.

Versuche, die Elektronenstruktur von Festkörpern zu berechnen, gab es schon in den 1930er-Jahren. Mit Rechenschiebern brauchte man damals Monate für ein Ergebnis, das ein Laptop heute in Sekundenbruchteilen ausspuckt. Denn wer zum Ursprung will, ist gleich mit außerordentlicher Komplexität konfrontiert: Für ein Wasserstoffatom kann die Wellenfunktion noch exakt ausgerechnet werden. Schon für drei Teilchen gibt es keine exakte Lösung mehr, und ab vier Teilchen wird es so komplex, "dass alle Computer der Welt nicht ausreichen, um die Informationen über die Wellenfunktion zu speichern", so Georg Kresse.

Walter Kohn, Wiener und als Kind von den Nazis vertriebener Nobelpreisträger, bezeichnete das Phänomen als "exponentielle Wand", gegen die man anläuft. Die Räuberleiter heißt Dichtefunktional-Theorie und wurde 1964 von ihm und Pierre Hohenberg entwickelt. Der Kniff: Statt mit den Wellenfunktionen wird mit der Dichteverteilung gearbeitet. Der energetische Grundzustand wird als Funktional der Dichte, die wiederum eine Funktion des Ortes ist, aufgefasst. Gemeinsam mit Lu Sham führte Kohn noch die lokale Dichtenäherung ein, die vom räumlich konstanten Elektronengas als Modell ausgeht. Um die viele Rechenarbeit endlich dem Computer zu überlassen, waren unter anderem 1985 Roberto Carr und Michele Parinello wegweisend. 1997 kam VASP 3.2 auf den Markt, im September wird Version 5.1 herauskommen.

Die Simulationsmethode entwickelt sich immer weiter und ist heute eher in Europa als den USA beheimatet: "Kurzfristig erzeugt diese Forschung keinen hohen Impact. Erforderlich ist eine langfristige, grundlagenorientierte nationale Förderung, wie sie der FWF bietet", spekuliert Georg Kresse. Die Basisfinanzierung für den Verein – derzeit 72.000 Euro im Jahr – kommt vom BMVIT.

Seit 1998 betreibt das CMS zudem eines der drei elitären Wissenschaftskollegs des Wissenschaftsfonds. Das Jahresbudget von rund einer Million Euro wird aus weiteren FWF-, EU- und Industrie-Projekten bestritten. Mit den VASP-Gebühren kann der Ankauf von Rechnern und die Weiterentwicklung des Programms finanziert werden, wobei die Industrie bei den Lizenzen zehnmal tiefer in die Tasche greifen muss als Unis.

Mitte Juni kamen unter dem Motto "Theory meets Industry" rund 50 Anwender aus beiden Bereichen nach Wien, um gemeinsame Strategien zu diskutieren. In Österreich selbst gibt es keine industriellen VASP-Nutzer, wohl weil die Struktur zu mittelständisch ist und eher anwendungsnahe Forschung betrieben wird. Die Arbeitsgruppen in Wien sind recht international besetzt, mit etwa zehn Prozent Frauenanteil. Größtes Problem der Physiker sind also nicht die Köpfe, sondern Kühlung und Stromversorgung der Computer in den alten, verstreuten Gebäuden der Uni Wien. Inzwischen wurde Starkstrom unter fünf Straßenbahnlinien hindurch auf die andere Währinger-Straße-Seite verlegt, die Steigleitungen sind aber noch ausständig.

Die Ausstattung der Universität Wien mit etwa 400 Prozessoren ist im Vergleich jedenfalls bescheiden. Am Redstone-Cluster in New Mexico stehen VASP-BenutzerInnen 20.900 Prozessoren zur Verfügung. Angesichts warmer Temperaturen wäre für Mensch und Maschine ohnehin Alaska ideal. (Astrid Kuffner/D ER S TANDARD , Print-Ausgabe, 4.7. 2007)