Die gebildeten Österreicher wissen, dass der westliche Teil der heutigen Türkei bis zur Eroberung von Konstantinopel 1453 durch die muslimischen Osmanen eine christlich orientierte Oberschicht hatte, die in griechisch-römischer Tradition dachte, agierte und regierte. Niemand weiß, wie sich ein byzantinisches Reich über die Jahrhunderte entwickelt hätte. Sicher aber ist, dass eine christliche Grundstimmung (inklusive Orthodoxie) genügt, um als "europäisch" zu gelten. Eine christliche Türkei wäre schon längst in der EU.

Den katholischen Staaten zum Beispiel sieht man vieles nach. Korrupt bis in die Knochen dürfen die Staatsapparate sein, sie dürfen die Vertreibung von Schwulen und Lesben aus Adria-Inseln anordnen, sie können wochenlang EU-Beschlüsse mit grotesken Forderungen blockieren. Man ist befremdet. Viel mehr aber nicht.

Im Falle der Türkei ist das alles anders. Ehrenmorde, Folterungen und vor allem das Vorgehen gegen die Kurden wiegen zwar schwerer als die Missstände in Rumänien, Bulgarien und dem Noch-nicht-Mitglied Kroatien, das bereits 2009 aufgenommen werden soll.

Selbst die Befürworter eines Türkei-Beitritts sprechen immer davon, dass dieser Schritt nicht vor 2015, eher einige Jahre später erfolgen soll. Dem Nato-Mitglied wird aber von Gegnern des Beitritts, selbst von Skeptikern jeder kleine Fehltritt als großer Fehler vorgehalten. Obwohl die Türkei eine entwickeltere Wirtschaft hat als die meisten Balkan-Länder, obwohl sie eine funktionierende Gewaltenteilung hat, die Todesstrafe abgeschafft hat und über ein Pressewesen verfügt, dessen Qualität in dieser Region nur von den israelischen Medien übertroffen wird.

Wenn die Kroaten, wie vor wenigen Tagen geschehen, zwölf von 37 EU-Kapiteln abschließen, wird von einem "Durchbruch" (Copyright ORF-Teletext) geschrieben. Wenn die Türkei zur gleichen Zeit erst vier Kapitel schafft, obwohl der Beitritt in weiter Ferne liegt, wird eine Art Abbruch herbeigeschrieben.

Kein Zweifel: Eine Aufnahme der Türkei wäre sowohl in finanzieller wie in machtpolitischer Hinsicht der größte Kraftakt in der Geschichte der EU. Sarkozy & Co sollten aber ehrlich sein. Die Begründungen, inklusive der geografischen, sind nur vorgeschoben. Die Wahrheit ist, dass man keine so große muslimisch dominierte Nation in der EU haben will. Über 90 Prozent der 75 Millionen Türken sind Muslime. Immerhin leben etwa 20 Millionen in Thrakien und in jenem kleinasiatischen Küstenteil, der europäisch durchströmt ist. Etwa fünf Millionen gehören dort zu anderen Bekenntnissen.

Die Frage um die es geht, ist weltanschaulich dominiert. Wenn man überzeugt ist, dass eine Aufnahme in die EU den aufgeschlossenen Teil der islamischen Elite stärkt, dann sollte man den Türken Perspektiven bieten und sie nicht ständig vor den Kopf stoßen.

Die populistische Art vieler europäischer Spitzenpolitiker (in dieser Frage inklusive Gusenbauer) kräftigt die EU-Gegner und damit die Islamisten.

Die Türkei wäre nach einem Beitritt ohnehin noch kein Euro-Land und hätte keine Schengen-Grenze, müsste also (sachlich begründet) lange noch jene Nachteile in Kauf nehmen, welche derzeit den Osteuropäern auferlegt sind.

Unfair ist, der südosteuropäischen Orthodoxie einen Persilschein ausgestellt zu haben, dem türkischen Islam aber zu unterstellen, er betreibe den Untergang Europas. Ein religiös überfrachteter Staat ist immer ein Problem. (Gerfried Sperl/DER STANDARD, Printausgabe, 2. Juli 2007)