"Eine Zeitung wie der STANDARD darf niemals ihre Grundhaltung aufgeben, muss letztlich aber immer unberechenbar bleiben, sie darf nie brav und fad sein", Sperl, im Bild mit Traxler und Bronner.

Foto: STANDARD/Semotan
Oscar Bronner ist ein genialer Zeitungsverleger, Gerfried Sperl sein kongenialer Blattmacher, der beste im Land. Das hat sinngemäß Michael Fleischhacker gesagt, als er nach nur zwei Jahren als Chef vom Dienst den Standard Richtung Presse verließ. Schade für ihn. Er hätte vom großen Meister noch viel lernen können. Aber er hat damit eine der Schlüsselformeln benannt, die Geschichte und Erfolg unserer Zeitung erklären. Sperl ist nicht der Typ Zeitungsgründer, kein Verleger, keiner, der das Zeitungsmachen als Geschäft versteht, keiner, der mit Geld wirklich umgehen kann. Das kann Oscar Bronner.

Aber eines kann Sperl wie kein Zweiter: Zeitung machen. Wenige wissen, dass Bronner und Sperl schon Ende 1986 in Graz erste gemeinsame Gehversuche für das Projekt unternahmen, lange vor der Gründung. Alles eine Geschichte der Zufälle, der Wendungen, der ergriffenen Gelegenheiten. Nach der Rückkehr von New York nach Wien hatte der trend/profil-Gründer Ausschau nach einem Chefredakteur für seine geplante liberale Tageszeitung gehalten. Erna Lackner vom FAZ-Magazin, die Sperl noch aus ihrer Zeit bei der Kleinen Zeitung in Graz kannte, machte ihn auf diesen Dynamiker aufmerksam, der 1982 Chefredakteur des ÖVP-Organs Tagespost geworden war.

Skeptisch gegenüber einem Parteiblattmacher lud Bronner den Unbekannten von jenseits des Semmerings trotzdem ein: Die Begegnung veränderte schlagartig seine Vorstellung. Sperl hatte die "schwarze" Zeitung eher unkonventionell entwickelt: schlichte parteipolitische Begehrlichkeiten des Eigentümers reduziert, das Blatt zu einem kleinen weltgewandten, für Diskussionen nach allen Seiten offenen Organ gemacht – wichtig im Grazer Biotop von Forum Stadtpark und Jazzakademie, von literarischer Avantgarde, steirischem herbst und Harnoncourt. Damit war aber ironischerweise das Schicksal der Tagespost besiegelt. Sie wurde als Parteizeitung unbrauchbar, wegen hoher Verluste im März 1987 eingestellt.

Bronner versuchte mit Sperl, die Substanz – Redaktion und System – zu übernehmen und sein Zeitungsprojekt von Graz aus zu starten. Aber VP-Landeshauptmann Josef Krainer senkte den Daumen nach unten. Die Abonnentendateien wurden an Konkurrenzblätter verteilt. Bronner zog sich zurück. Sperl ging nach Wien und wurde Vizechefredakteur im Kurier. Ich habe das damals als Falter- und Kleine Zeitung-Mitarbeiter in Graz genau mitverfolgt. Einen Artikel über die Machenschaften haben wir im Falter mit "Krainer kennt keine Würstel" getitelt. Mehr hat der Landeshauptmann (und seine Adlaten) nicht gebraucht: Für derartige "Majestätsbeleidigungen" wurde man geächtet. Sperl gefiel "Unbotmäßigkeit". Die steirischen Wurzeln hat er immer gepflegt, dort lernte er alle Facetten, wie Politik funktioniert.

Aber ohne Gerfried Sperl wäre die Zeitung nicht das geworden, was sie heute ist

Die ganze Geschichte hatte ihr Gutes: Bronner und Sperl verloren sich seit der Tagespost-Einstellung nicht mehr aus den Augen. Ohne Oscar Bronner gäbe es keinen Standard. Aber ohne Gerfried Sperl wäre die Zeitung nicht das geworden, was sie heute ist: eine wahrlich unabhängiges führendes Qualitätsblatt in einem Land, das medial nach Naziherrschaft und Krieg jahrzehntelang von Proporz, Parteipolitik, Sozialpartnern, Kirche, Kammern, Boulevard und mächtiger Regionalpresse dominiert war. Sie haben eine Redaktion kreiert, die sich von niemandem einschüchtern oder vereinnahmen lässt, ein Blatt, das für universale Werte, für Haltung wie für Meinungspluralität steht. Das hat gefehlt.

Auch in den 68ern, die der scheidende Chefredakteur als Glanzzeit der Öffnung, der Revolte, des respektlosen Aufbegehrens so gerne und glühend erklärt – man könnte oft auch sagen: verklärt. Aber in den 80ern, da wurde der Qualitätszeitungsmarkt insgesamt verändert und verbessert. Zwei Persönlichkeiten von der starken Sorte haben sich zusammengefunden. Niemand soll glauben, dass das für die anderen immer lustig ist. Schon gar nicht für uns Junge, die hier das Blattmacherhandwerk lernen. Da kann es vorkommen, dass der Meister beim Blick auf einen Seite-1-Entwurf befindet: "Das habe ich so gemacht, als ich meine erste Schülerzeitung zusammenbastelte!" – "Danke, dann hab ich ja noch ein bisserl Zeit zum Üben, um so groß (also alt) zu werden wie Sie!" Das darf man durchaus. Blattmachen ist Gegenrede, Hirn und Emotion. Das hält ein Sperl schon aus. Außenstehende wundern sich manchmal über solche Impulse. Aber eine von Sperls wirklich prägnanten Eigenschaften ist, dass er äußerst streitbar, diskussionsfreudig, am Aufeinanderprallen von Argumenten interessiert ist – manchmal ziemlich unangenehm, dann aber auch nicht nachtragend, wenn er selbst einstecken muss.

Scharfer Diskurs

So wie man das an der Uni gelernt hat. Ein Sperl hat das nie vergessen. Scharfer Diskurs. Leidenschaft. Das steckt einfach in ihm drinnen. So machte er Studentenpolitik. Weil ihm die etablierten Fraktionen von links und rechts und vor allem von ganz rechts auf den Geist gingen, gründete er Mitte der 60er-Jahre eine eigene Studentenpartei. Ihr Name: Aktion. Das hat auch mit Macht, mit Machtverhältnissen und Machtausübung zu tun. So macht er Zeitung. Deshalb war es auch kein Zufall, dass Bildung, Wissenschaft, Forschung, Literatur, Kunst, Architektur von Anfang an eine herausragende integrale Rolle spielten. Und dass Sperl alle meine Initiativen, die Studenten intensiv als Leser zu gewinnen (etwa durch leistbare Studentenabos, die wir einführten), stark unterstützt hat. Aus heutiger Sicht mag das erstaunen. Aber in den 80er-Jahren war so etwas keinesfalls selbstverständlich.

Um die jungen Leser hat sich damals kaum jemand gekümmert. In den ersten Monaten haben manche in der Branche sogar noch abschätzig gelacht über das neue lachsrosa "Studentenblattl". Das ist ihnen bald vergangen. Zigtausende Studierende wurden zu treuen Lesern. Mit ihnen als Basis konnte der Standard in Österreich das Uni-Ranking einführen, einen Leistungsvergleich der Hochschulen. Uni-Standard, Junior-Standard, später Schüler-Standard wurden Fixsterne.

Sperl war begeistert. Das Land bewegen, den öffentlichen Raum besetzen, irritieren, aufregen, Politik, Kultur, Architektur, Gesellschaft verbinden, Entwicklungen erspüren und zeigen, bestimmte Inhalte (und selbstverständlich auch sich persönlich) in den Vordergrund spielen, das liebt Sperl. Da ist er in seinem Element. Wir wollten die Zukunft erobern. Wenn es ums Jungsein geht, ist Sperl stets dabei, auch wenn das manchmal schon komisch wirkt. Der Mann ist 65! "Schöpferische Menschen sind immer pubertär", schrieb Johann W. Goethe. "Eine Zeitung wie der Standard darf niemals ihre Grundhaltung aufgeben, muss letztlich aber immer unberechenbar bleiben", lautet einer der Sperl-Lehrsätze. Sie darf sich also nie ausruhen, nie "brav" sein, darf keine Schablone sein. Das heißt aber, dass auch die Mitarbeiter nicht angepasst, brav und fad sein dürfen. Es wäre fatal, wenn uns alles wurscht wäre. Anspruchsvolle Journalisten dürfen niemals zynisch werden. Brechen Dämme, finden sich in Sperl-Leitartikeln dann klare Gegen-Sätze: "So dreht sich das Riesenrad der Verluderung immer weiter."

Der Chefredakteur sieht das politisch-programmatisch als Daueransage gegen die jeweils Herrschenden. Da läuft er, wenn es wirklich hart auf hart geht, zur Hochform auf. Da ist kein Kanzler oder Kardinal, kein Minister oder Star vor ihm sicher. Einen Elchtest für den Vorzug von Charakter lieferte er 1997 bei der so genannten "Amsterdamer Frühstücksaffäre" des Außenministers. Dieser hatte den deutschen Bundesbankpräsidenten mit nicht freundlichen Vergleichen aus der Welt der Schweinezucht bedacht. An sich wäre das eine Posse der Innenpolitik geblieben. Als aber der Außenminister seinen Fauxpas ins Gegenteil verkehrte, die Sache nun den Journalisten in die Schuhe schob, im Parlament erklärte, Journalisten hätten diese Affäre "erdacht", um dem Ansehen des Außenministeriums, der ÖVP und des Landes zu schaden, da wurde es plötzlich sehr ernst.

"Schüssel und die Wahrheit"

Da trennte sich die Chefredakteursspreu vom Weizen. Einige Zeitungen fielen wider besseres Wissen sofort um. Nicht so Sperl. Als der Minister an ihn, seinen Du-Freund aus Studententagen, einen persönlichen Brief schrieb ("Sehr geehrter Herr Chefredakteur, lieber Gerfried") und mich zu kompromittieren suchte, da traf er kühl zwei Entscheidungen: Er ordnete an, dass wir unaufgeregt über die Hintergründe und Fakten berichten sollten. Er selbst setzte sich hin und schrieb einen Leitartikel. Titel: "Schüssel und die Wahrheit". Eine Philippika gegen Verdrehungen in Politik und Medien, gegen Machterhalt als Selbstzweck in einer Affäre um "den Wert der Wahrheit".

Nach diesem Extremfall an Standfestigkeit haben wir ihn bewundert, beinahe geliebt. So prägt man das Rückgrat einer Redaktion über Jahrzehnte. "Sperls politische Grundhaltung ist frei von Zynismus, er ist ein Anwalt der Bürgerrechte und der Menschenrechte. Er hat immer klar gegen die Verluderung der Sitten Stellung bezogen", lautete der Spruch der Jury, die ihm den diesjährigen Kurt-Vorhofer-Preis verliehen hat. Genau. So ist es. Wer die Gründung dieses Blattes aus dem Nichts, alle schwierigen Phasen seither vor Augen hat, kann sich getrauen, die Dinge so klar auszusprechen. Warum auch nicht? Die Zeitung ist, was sie ist, weil zwei Gründergestalten einem Prinzip immer oberste Priorität gaben: Die Unabhängigkeit der Redakteure, der Respekt für Freiheit der Meinung, Courage sind unteilbare Werte. Kritik – auch nach innen – ist daher nicht nur selbstverständlich, sondern geradezu zwingend. Davon lebt das Ganze. "Niemand soll zu viel Macht haben", hat Herr Bronner einmal – wie vieles andere Wichtige – so nebenbei hingeworfen, als wir uns einmal über Strukturfragen unterhielten. Das heißt aber umgekehrt: Eine Prise Respektlosigkeit müssen kritische Journalisten sich immer genehmigen dürfen.

Tief geprägt ist Sperl durch die "Grazer Zeit". Dort habe ich ihn zum ersten Mal im Jahr 1983 getroffen, als die Uni wegen Kürzungen von Sozialleistungen gerade besetzt war. Uns hat das fürchterlich aufgeregt. Sperl wollte sofort, dass ich etwas für "seine" Zeitung schreibe. Das wollte und will er immer: Wenn er irgendetwas erschnüffelt, das ihn interessiert, beginnt er zu glühen und andere anzustecken. Zuweilen wird er dabei richtig unverschämt.

Erinnerungsbilder

Erinnerungsbilder: Ein halbes Jahr nach Einstellung der Tagespost haben sich im Herbst 1987 unsere Beziehungen überraschend verdichtet. Hintergrund: Der Falter, für den Paul Grafl und ich die Südösterreich-Redaktion machten, geriet in eine existenzbedrohende Krise. Die Z-Länderbank drohte mit Zusperren. Ich startete mithilfe eines väterlichen Freundes das Projekt "Der Falter darf nicht sterben, wir machen eine liberale Wochenzeitung daraus". Der Plan war toll, wir berauscht. Das Problem dabei: Wir hatten keine Ahnung, wie man das macht. Also fuhr ich nach Wien, um mit Sperl über die Chancen eines solchen Blattes zu reden. Er hörte es sich schweigend an, die Pläne, welche Redakteure im Team sein könnten, dass wir auf das Know-how im Programmbereich setzen wollten, auf die Stärken im Kultur- und Universitätsbereich und, und, und. Nach zwanzig Minuten sprang er auf, rannte umher, begann den Schreibtisch (und mich) zu umkreisen, erzählte von seiner Unzufriedenheit und rief plötzlich: "Wenn es Ihnen gelingt, die Zeitung für drei Jahre zu finanzieren, dann mache ich den Chefredakteur."

Auch das ist ziemlich Sperl-typisch. Niemand hat ihm diesen Job angeboten, aber er war schon Feuer und Flamme. Sein Name hat bei Verhandlungen sehr geholfen. Im April 1988 scheiterte das Projekt.

Ein paar Wochen später. Sperl in Graz erzählt beim Kaffeetrinken skeptisch: "Bronner ist wieder da, jetzt will er eine Financial Times machen. In Österreich!" Das ginge nicht, wer solle das lesen? Wieder einige Wochen später, im Juni, ein Anruf von Sperl, ganz aufgeregt: "Es ist alles ganz anders. Kommen Sie nach Wien, jetzt machen wir die Zeitung, die wir immer machen wollten." Viele Kollegen von Falter und Tagespost, die für das Wochenzeitungsprojekt geplant waren, zogen mit: Mischa Jäger, Christian Ankowitsch, Wolfgang Weisgram, Jürgen Langenbach, Alexander Horvath, Norbert Mayer, Johannes Steiner, Joe Kirchengast.

Begeisterungsfähig. So ist er noch immer. Sperl war es auch, der dem Blatt den Namen gab. Er fand ihn an einem Wochenende im Garten in der Oststeiermark beim Blättern in einem Wörterbuch: Der Standard. Viele fanden den Namen damals daneben. Heute ist er unverwechselbar. Sperl war "seiner Zeit immer ein Stück voraus", schrieb Frido Hütter vor Kurzem. Er hat als Chef vom Dienst die Kleine Zeitung durch Einführung innovativer Techniken und des Computers revolutioniert, bis ihm sein Kollege Erwin Zankel im Zorn eine Schreibmaschine nachwarf. Heute tut er sich damit schwerer, gibt den Jüngeren manche Rätsel auf, wenn er von den Vorteilen von Chaos und Anarchie im Redaktionsalltag schwärmt. Newsroom, Planung, virtuelle Schreibtische – das ist ihm eine schöne neue Welt. Zu Hause hat er einen alten Mac im Büro, ohne Internetanschluss.

Innere Urenergie

Herr Sperl hat viele gute Eigenschaften und viele schlechte. Beginnen wir mit den schlechten: Er ist oft aufbrausend, chaotisch, fahrig, unpräzise, laut, leidenschaftlich, unberechenbar, irrational, störrisch. Er schreit herum. Seltsamerweise sind das seine guten Eigenschaften, wenn es darum geht, eine gute Zeitung zu machen: Er ist zur Not laut, fahrig, chaotisch, aufbrausend, störrisch, irrational, unberechenbar, schreit herum. Woher diese innere Urenergie kommt, dieses Feeling beim Blattmachen, dieses "Bauchgefühl", das es ihm erlaubt, instinktiv eine richtige Entscheidung zu treffen, hat viel mit Sport zu tun. Die Dinge sind intensiv trainiert auf Basis breiter Bildung, mit viel Erfahrung unterlegt. Blattmachen kann man, oder eben nicht.

Sperl war in seiner Jugend ein exzellenter Leichtathlet, 100 Meter in 10,9 Sekunden. Das verbindet uns. Sprinter müssen austrainiert sein, sich extrem gut konzentrieren können, damit sie beim Startschuss innerlich explodieren und alle Muskeln gleichzeitig in Bewegung bringen. Wer sich die Technik, das nötige Stehvermögen, diesen eisernen Willen, nicht erarbeitet hat, der kann nie unter elf Sekunden kommen. Der Sieg ist eine süße Euphorie, öfter aber verliert man. Sperl ist ein so exzellenter Blattmacher, weil er jeden Tag wie ein 100-Meter-Läufer antritt.

Schlussbild: Vor Jahren waren wir bei einer Zeitungsmesse in Amsterdam. Nach zehn Stunden Umherlaufen von einem Stand zum anderen hatten wir beim Warten auf den Abflug vor allem Hunger, suchten ein Restaurant. Sperl nicht, er wollte sich "noch so ein bisschen umschauen, was es so gibt". Ich ging noch Tabak kaufen, kam fünf Minuten später an einem Zeitschriftengeschäft vorbei – und sehe plötzlich von der Weite meinen Chefredakteur. "Was macht der da?", denke ich, schaue ihm eine Weile zu. Sperl steht vor hunderten Zeitschriften, greift sich eine nach der anderen, blättert sie durch. So ist dieser Mensch, verrückt nach bedrucktem Papier, schlicht und einfach. (DER STANDARD/Über uns/02/07)