Nach einer Studie, laut der in vielen Aborigines-Dörfern Kinder sexuell missbraucht würden, sollen die Gemeinden ihre Verwaltungsautonomie verlieren. Die Regierung will die Kontrolle über Grund und Boden.

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Aborigines-Gemeinden im australischen Northern Territory sollen bedeutende Rechte verlieren. Das hat der australische Premierminister John Howard vergangene Woche angekündigt. Er reagierte auf den Bericht einer Untersuchungskommission, wonach in vielen Dörfern Kindsmissbrauch endemisch ist. Kinder ab dem Alter von drei Jahren, vor allem aber Teenager, würden regelmäßig sexuell ausgebeutet. Verwahrlosung, Depressionen und Selbstmorde seien die Folgen. Nicht nur Ureinwohner sind Täter. Auch weiße Bergbauarbeiter würden Aboriginal-Mädchen sexuell ausnutzen und sie mit Alkohol und Drogen bezahlen. Die Studie war von der Regierung des Northern Territory in Auftrag gegeben worden.

"Bei diesen Erkenntnissen sollte jedem Australier übel werden." So reagierte Mal Brough, der Minister für Aborigines, auf die Untersuchung. Dem 316 Seiten umfassenden Papier zufolge werden in jedem der 45 untersuchten Dörfer Kinder missbraucht. Oft sind sie mit harter Pornografie in Form von DVDs und Videos konfrontiert oder sie schauen bei echten, brutalen sexuellen Handlungen zu. Häufig stehen die Opfer unter dem Einfluss von Alkohol und Marihuana oder sie schnüffeln Benzin. Die Aborigines seien in einem "Zyklus des Missbrauchs", warnen die Studienautoren. "In vielen Fällen sind die Opfer von gestern die Täter von heute".

Die Studie empfiehlt als Maßnahmen die Verbesserung der Lebensumstände, bessere Gesundheitsversorgung, und eine Verschärfung des Pornografiegesetzes.

"Nationaler Notfall"

Premierminister Howard sprach von einem "nationalen Notfall". Um die Situation unter Kontrolle zu bringen, will er die in der jüngeren australischen Geschichte radikalsten Einschränkungen der Rechte einer einzelnen Bevölkerungsgruppe durchsetzen.

Über die Köpfe der Regionalregierung des Northern Territory hinweg will Howard, dass die betroffenen, größtenteils von Aborigines bewohnten Dörfer ihre Verwaltungsautonomie verlieren. Die Regierung will die Kontrolle über Grund und Boden übernehmen. Das Prinzip, wonach man für das Betreten von Aboriginal-Land eine Bewilligung braucht, soll aufgehoben werden. Der Verkauf von Alkohol soll verboten werden. Außerdem wird der Besitz von Pornovideos und -DVDs in den Dörfern illegal. Schließlich sollen Sozialhilfegelder für Eltern zurückbehalten werden, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken. Alle Kinder unter 16 Jahren müssen medizinisch untersucht werden.

"Rassistische Mittel"

Als "skandalösen, autoritären Zugang mit dem Kampfstiefel" bezeichnete die oppositionelle Kleinpartei der Demokraten die Maßnahmen. Bob Brown, der Chef der Grünen, warf Howard vor, "rassistische Mittel zu verwenden", um im Wahljahr ein Problem anzugehen, um das er sich seit seiner Amtseinsetzung vor elf Jahren nie gekümmert habe.

Trotzdem erhielt Howard auch von Ureinwohnern Beifall. Dass etwas unternommen werden muss, darüber ist man sich einig. Verwahrlosung, Alkohol-, Drogenmissbrauch, Gewalt und Arbeitslosigkeit sind sowohl Ursachen als auch Symptome für die schlechten Lebensumstände vieler Aborigines. Doch auch Rassismus trägt dazu bei, dass sie die am stärksten benachteiligte Bevölkerungsgruppe sind. Aborigines sterben im Schnitt um 17 Jahre früher als nicht-indigene Australier. (Urs Wälterlin aus Canberra/DER STANDARD, Printausgabe, 25.6.2007)