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"Es kostet nichts, zu EinwanderInnen zu sagen: 'Wir schätzen Ihren Beitrag zur kanadischen Gesellschaft, Ihr kulturelles Erbe ist nun ein Teil Kanadas und daher sollten Sie es Ihren Kindern weitergeben. Und: Fühlen Sie sich zu Hause.'"

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Zur Person
Govind Rao unterrichtet Politik und politische Ökonomie an der McMaster University in Hamilton, Ontario.

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Der Migrationsforscher Govind Rao vergleicht im derStandard.at-Interview mit Heidi Weinhäupl die kanadische mit der österreichischen Integrationspolitik. Österreich müsse antirassistisch werden; es gelte, den Mythos der Homogenität symbolisch zu brechen: "Es kostet nichts, zu EinwanderInnen zu sagen: Wir schätzen Ihren Beitrag zur kanadischen Gesellschaft." Er selbst fühlt sich als Kanadier, Inder und Österreicher - "zu hundert Prozent".

 

 

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derStandard.at: Kanada gilt als das Vorzeigeland des Multikulturalismus, während in Europa das Wort selbst bereits diskreditiert scheint. In welchen Punkten könnte Ihrer Meinung nach Österreich von Kanada lernen?

Rao: Ich sehe viele Parallelen zwischen Österreich und der Entwicklung in Kanada. Ich denke die Lektion Nummer eins für Österreich wäre es, zu realisieren, dass es - genau wie Kanada - ein Einwanderungsland ist und das für die letzten hundert Jahre gewesen ist. Man könnte fast sagen, die Integration hat in Österreich zu gut funktioniert - die Menschen haben vergessen, dass sie vor wenigen Generationen selbst Einwanderer waren. In Kanada ist dieses Bewusstsein stärker vorhanden.

derStandard.at: Was war dafür ausschlaggebend?

Rao: In Kanada entstand der Multikulturalismus ab den 60er-Jahren, als französische Nationalisten die Zweisprachigkeit forderten. In diese Debatte mischten sich dann Italiener, Ukrainer und andere Communities ein und sagten: "Moment, wir wollen auch wahrgenommen werden!" Auf der Basis dieses Multikulturalismus und der Menschenrechte wurde eine moderne kanadische Identität geschaffen - weg von der britischen Identität hin zu einer neuen, modernen Sicht des Landes, die von den politischen Parteien propagiert wurde. Heute sehen mehr als 60 Prozent der Bevölkerung Zuwanderung als wertvoll oder sehr wertvoll für das Land. Pro Jahr wandern rund 250.000 Menschen zu - und diese Zuwanderer sorgen für 20 bis 30 Prozent des Wirtschaftswachstums.

derStandard.at: Österreichische PolitikerInnen berufen sich auf Kanada, wenn sie strengere Einwanderungs-Gesetze fordern - doch abgesehen von wenigen Quotenplätzen für Spitzenkräfte und die Familienzusammenführung gibt es in Österreich kaum eine legale Möglichkeit der Einwanderung.

Rao: Wenn es keine legale Einwanderung gibt, dann werden die Menschen in illegale Wege gezwungen. Ein Teil des Anstieges der so genannten illegalen Einwanderung in Österreich kommt daher, dass die legale Einwanderung so schwierig geworden ist.

derStandard.at: Funktioniert Integration im multikulturellen Kanada?

Rao: Der Multikulturalismus funktioniert, indem er sozusagen scheitert. Studien zeigen, dass MigrantInnen in Kanada ihre Kultur, Sprache, Lebensweise genauso rasch ablegen wie in anderen Ländern, welche die Herkunftssprache und Kulturen nicht fördern. Es ist den Menschen nämlich weniger wichtig, ihre Kultur weiterzugeben, wenn sie sich in ihrer neuen Heimat willkommen, wertgeschätzt und zugehörig fühlen. Kultur dient oft der Verteidigung gegen ein feindliches Umfeld. Der wichtigste Aspekt einer Multikulturalismus-Politik ist daher rein symbolisch. Es kostet nichts, zu EinwanderInnen zu sagen: "Wir schätzen Ihren Beitrag zur kanadischen Gesellschaft, Ihr kulturelles Erbe ist nun ein Teil Kanadas und daher sollten Sie es Ihren Kindern weitergeben. Und: Fühlen Sie sich zu Hause." Integration dauert Zeit, aber wer sich willkommen fühlt, geht einen natürlichen Integrationsprozess oder lässt seine Kinder diesen gehen.

derStandard.at: Wie viel Zeit braucht Integration?

Rao: Die erste Generation integriert sich vielleicht nie völlig, aber die zweite und die dritte ewrden sich zu Hause fühlen. Man hört in Kanada oft von Zugewanderten: "Ich bin aus Indien, aber meine Kinder sind Kanadier." Eltern, die sich wertgeschätzt fühlen, werden ihren Kindern eher erlauben, sich wie andere Kanadier zu verhalten, kanadische Mode zu tragen, sich zu verabreden - schließlich sehen sie sich selbst als Kanadier und Kanadierinnen. ImmigrantInnen sind manchmal am patriotischsten. Ich habe zum Beispiel Freunde aus Sri Lanka, die am Nationalfeiertag kanadische Flaggen hissen und die Fernsehübertragung verfolgen. Dabei spricht die ältere Generation kaum Englisch. Sie sind aber durch tamilisch-sprachige Zeitungen top-informiert über kanadische Politik - und sie sind stolz, Kanadier oder Kanadierinnen zu sein.

derStandard.at: Gibt es spezielle Programme, die für das gegenseitige Kennenlernen sorgen und verhindern, dass sich homogene Gruppen bilden?

Rao: Hier sehe ich einen Gegensatz zum europäischen Denken: In Europa gibt es die Annahme, dass Immigranten-Communities aufgebrochen oder verhindert werden müssen, damit sich die Zuwanderer integrieren. In Kanada gibt es solche Siedlungspolitiken nicht - und gerade das trägt dazu bei, dass sich die ImmigrantInnen zu Hause fühlen. Ich meine, wir sind doch Menschen. Wenn Österreicher nach Kanada kommen, integrieren sie sich nicht sofort zu hundert Prozent - sie hängen mit anderen Österreichern ab.

Eine große Community hilft bei der Integration - wenn es Geschäfte, Restaurants, Zeitungen in der jeweiligen Sprache gibt, fühlen sich die Leute zu Hause. Und es werden Jobs für diejenigen geschaffen, die vor kurzem gekommen sind.

derStandard.at: Doch kann nicht gerade dadurch auch Rassismus gefördert werden?

Rao: Nein, ich würde dem widersprechen, dass Rassismus ein Produkt von Vielfalt sei, dass also die ImmigrantInnen selbst die Probleme verursachen. Im Gegenteil, in Kanada zeigen Studien, dass Diversität und Einwanderung vor allem in Bezirken mit vielen Zugewanderten begrüßt wird. Wer in Kontakt kommt, lernt, die anderen als Menschen wahrzunehmen, nicht als eine Art von Feind.

derStandard.at: In Österreich - wie auch in anderen europäischen Ländern - folgt der politische Diskurs hingegen der Regel: Wir müssen weitere Einwanderung verhindern, um Probleme zu vermeiden, da diese populistischen Parteien zum Stimmenfang benutzt werden könnten.

Rao: Richtig, und hier zeigt sich genau eine der größten Veränderungen, die in den 1960ern in Kanada passiert sind: Die Mainstream- Parteien haben realisiert, dass sie ihre politische Rhetorik auf Pro-Immigrantion ändern müssen, um wichtige WählerInnen-Gruppen zu erreichen - umso mehr als die Neu-KanadierInnen eher wählen. Die Parteien suchten KandidatInnen aus den jeweiligen Communities und das veränderte auch das politische Bild. Kleine Parteien sind im kanadischen Wahlrecht benachteiligt, dadurch tendieren alle zur Mitte - und gemeinsam mit dem Fakt, dass die Zuwanderung wichtig für Kanada und seine Wirtschaft ist, wurden rassistische Kommentare gesellschaftlich weniger akzeptabel.

derStandard.at: Doch besteht in einem solchen System nicht auch die Gefahr, dass Rassismus lediglich versteckt wird, gerade weil er nicht akzeptiert ist?

Rao: Ja, die besteht sicherlich, das ist auch die Kritik von Seiten kanadischer MigrantInnen-NGOs. Auch, dass der staatliche Multikulturalismus die Tatsache versteckt, dass am Arbeitsmarkt Diskriminierung besteht. Und das ist wahr - auch in Kanada wurde Rassismus nicht eliminiert. Doch es ist ein Vorteil, dass Menschen in den meisten Teilen des Landes ihr Leben leben können, ohne täglich mit Rassismus konfrontiert zu werden.

derStandard.at: Im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen oder sozialen Schichten können Probleme auftreten - es gibt unterschiedliche Vorstellungen von adäquater Lautstärke, von der Nutzung öffentlicher Räume. Wie gehen Menschen in Kanada damit um?

Rao: Klar, auch in Kanada kommt es zu Problemen, sei es in sommerheißen Straßenbahnen oder sonstwo. Doch fast immer mischt sich gleich jemand mit den Worten ein: "Come on now, wir sind alle nach Kanada eingewandert, wir sollten einfach miteinander auskommen." Die Leute erinnern sich, dass ihre Familie - abgesehen von den native Canadians - an irgendeinem Zeitpunkt eingewandert ist. Es gibt auch ein stärkeres Verständnis, dass Integration seine Zeit dauert.

derStandard.at: Ist Rassismus Ihrer Meinung nach in Österreich stärker akzeptiert?

Rao: Hier wird stärker generalisiert und alles auf "die Kultur" zurückgeführt. Beispielsweise hat Kanada diese britische Tradition des Schlangestehens - und natürlich haben manche Einwanderer, beispielsweise aus Österreich, diese Kultur nicht. KanadierInnen sagen dann vielleicht "how rude", wie ungezogen, aber nicht auf rassistische Art.

derStandard.at: Sie sagen also nicht sofort "typisch Österreicher, immer so ungezogen"?

Rao: (lacht) Genau. Dazu ist aber auch zu sagen: Die kanadische Multikulturalismus-Politik kostet nur 30 Millionen Dollar pro Jahr - einen Dollar pro KanadierIn. Aber nahezu alles davon geht in die antirassistische Erziehung und Öffentlichkeitsarbeit. Die österreichische Regierung müsste offen sagen und zeigen, dass Rassismus inakzeptabel ist. Das hilft, den generellen Diskurs langsam zu ändern. Auch die Anerkennung der Rechte der nationalen Minderheiten ist hier sehr wichtig. Alle Parteien müssen antirassistisch werden. Voraussetzung dafür ist eine Veränderung des Staatsbürgerschafts- und Wahlrechts: Zugewanderte sollen früher mitbestimmen können.

derStandard.at: Danach sieht es in Österreich derzeit nicht aus.

Rao: Ja, Österreich scheint hier in einem Teufelskreis gefangen. Um daraus auszubrechen, müssen AkademikerInnen, KünstlerInnen und Kulturschaffende die österreichische Identität redefinieren. Ich bin mir sicher, dass es in naher Zukunft österreichische SpitzensportlerInnen mit anderen Hautfarben und multikultureller Herkunft gibt - und das wird Österreich dazu bringen, darüber nachzudenken, wie sie sich selbst sehen. Es geht darum, den Mythos der Homogenität zu brechen.

derStandard.at: Wie könnte so eine neue österreichische Identität aussehen?

Rao: Beispielsweise höre ich oft: "Oh, in Ottakring fühle ich mich nicht mehr zu Hause, ich fühle mich wie in einem fremden Land." Aber: Wird dort nicht gerade eine wunderbare neue Kultur geboren, eine die niemals zuvor existiert hat, die sowohl türkisch als auch jugoslawisch als auch österreichisch ist? Und die mit Sicherheit zur österreichischen Gesellschaft auf eine neue und aufregende Weise beitragen wird. Wie die Melange in den 20er- und 30er-Jahren. Österreich muss weg vom touristischen Habsburg-Image. Die große Veränderung in den 60er-Jahren war, dass die KanadierInnen die Idee akzeptiert haben, dass sie ein neues Land aufbauen können, das nicht wie das alte ist, aber genauso wertvoll.

derStandard.at: Sehen Sie in Österreich auch positive Signale in diese Richtung?

Rao: Es gibt schon Gründe, optimistisch zu sein. Beispielsweise sehe ich bei jungen ÖsterreicherInnen die gleichen Werte wie bei jungen KanadierInnen. Sie schätzen Vielfalt und sie sind antirassistisch. Und schließlich kenne ich Österreich auch von der Innenseite - und ich weiß dass ÖsterreicherInnen nicht rassistisch im eigentlichen Sinn des Wortes sind, sie sind vielmehr sehr interessiert an anderen Kulturen. Wie meine Mutter, die aus Wien kommt: Sie ist mit einem Inder verheiratet, stolz auf ihre chinesischen Freunde, aber spricht dennoch sehr generalisierend über andere Communities. Das ist ein Paradox.

derStandard.at: Sie haben auch persönlich einen sehr multikulturellen Hintergrund - fühlen Sie sich als Kanadier? Österreicher? Inder?

Rao: Ja, mein Opa wurde 1910 in Wien geboren ? seine Eltern kamen aus Tschechien und aus Galizien und meine Mutter verließ die Brigittenau 1960 und zog nach Kanada, um meinen Vater, einen Inder zu heiraten. Und ich fühle mich als 100-prozentiger Kanadier, als 100-prozentiger Österreicher und als 100- prozentiger Inder. In Österreich mag dies paradox klingen, in Kanada nicht. Wenn ich durch Wien gehe, fühle ich mich zu Hause, es gibt familiär bedeutsame Orte, ich fühle mich als Teil der Gesellschaft. Doch die ÖsterreicherInnen sehen mich an und denken: Er gehört nicht hierher. Hier zeigt sich wieder, dass Integration keine Einbahnstraße ist. ImmigrantInnen können sich integrieren, zugehörig fühlen und alle Schritte gehen. Doch wenn die eingeborenen Österreicher sie nicht akzeptieren, gibt es keine Möglichkeit für Integration. Und das ist das Problem, das Österreich überwinden muss. (Heidi Weinhäupl, derStandard.at, 14.8.2007)