Schilf- und Inselwelt im Theiß-See. Von hier ging die Wiederbelebung des Flusses nach der Umweltkatastrophe Anfang 2000 aus.

Foto: Gregor Mayer
Langsam gleitet das Holzboot in die Einbuchtung des 6er-Kanals. Oben auf dem Schleusentor hockt majestätisch ein Graureiher, als wollte er den Eingang bewachen. Tatsächlich sticht das Boot in ein kleines Paradies vor: Erlen und Weiden strecken ihre Wurzeln weit in das Gewässer vor, zum Teil knicken sie dabei ein, sodass ihre Laubkrone beinahe die Wasseroberfläche streift. Prachtvolle Vögel flattern aus dem Gebüsch auf, unter ihnen schwarze Kormorane, ein spitzschnabeliger Nachtreiher, ein azurblauer Eisvogel. "Diese Tiere gewöhnen sich an den Menschen", meint Lajos Szabó, der das Boot routiniert steuert, aber ansonsten Projektmanager der ungarischen "Tourismusregion Theiß-See" ist. "Bis zum Ende des Sommers lassen sie einen schon ziemlich nahe rankommen."

Die 1308 Kilometer lange Theiß (Ungarisch Tisza), von der etwa 600 Kilometer auf Ungarn entfallen, und der künstlich aufgestaute Theiß-See bei Tiszafüred bilden eine der schönsten Naturlandschaften des Magyaren-Landes. Zusammen mit der angrenzenden großen Puszta von Hortobágy fügt sie sich zu einem Ökosystem zusammen, dessen Entstehung sich einer Wechselwirkung menschlicher Eingriffe verdankt und dessen Zukunft in einem schonenden Tourismus liegt.

Fluss mit Geschichte

Die Theiß entspringt in den ukrainischen Waldkarpaten, berührt Rumänien, Ungarn und die Slowakei, wendet sich schließlich ganz nach Ungarn, das sie in zahllosen Mäandern durchquert, um dann in Serbien in die Donau zu münden. Wegen der häufigen katastrophalen Überschwemmungen begannen die Ungarn im 18. Jahrhundert das Gewässer zu regulieren. Ein Großteil der Aulandschaften trocknete infolgedessen aus, und es entstand die Puszta, die heute als einzigartige Steppenlandschaft inmitten Europas bewundert wird. Im Jahr 1973 errichteten die Ungarn bei Kisköre ein Flusskraftwerk. Infolge der Aufstauung entstand der Theiß-See, mit 127 Quadratkilometern Ungarns größter See nach dem Balaton (Plattensee). Der ursprüngliche Fluss, der Stausee, dessen Inseln und die verbindenden zehn Kanäle wuchsen über die Jahrzehnte zu einem Biotop heran, das zur Heimat zahlreicher geschützter Pflanzen- und Tierarten wurde.

Fischreichtum Lange Zeit erfreuten sich nur ansässige Angler und ein paar Deutsche und Österreicher, die sich dort Wochenendhäuser gekauft hatten, des Fischreichtums. 1998 kreierte die ungarische Regierung die "Tourismusregion Theiß-See", um eine einheitliche Investitions- und Marketingpolitik zu ermöglichen.

Im Jänner 2000 erfolgte ein massiver, fremdverschuldeter Rückschlag: In Nordwest-Rumänien brach ein Staubecken, in dem mit einer Zyan-Lauge Gold aus Gestein gewaschen wurde. Der Zyan-Pfropfen erreichte über Zuflüsse die ungarische Theiß und richtete ein gigantisches Fischsterben an. Doch der Schaden war am Ende geringer, als es die dramatischen Bilder von den verendeten Amurwelsen suggeriert hatten. Da die E-Werk- Ingenieure die Kanäle zum Theiß-See vor dem Herannahen der Zyan-Lauge abgeriegelt hatten, blieb der See von der Verschmutzung unberührt. Das dort gerettete Getier belebte den Fluss neu.

Sieben Jahre später: Meist in privater Initiative, koordiniert vom Büro der Tourismusregion, sind Unterkünfte, Boots- und Yachthäfen, Fahrradwege sowie Lehrpfade und Aussichtswarten entstanden. Rund 10.000 Gästebetten stehen zur Verfügung. Das 70-Zimmer-Hotel "Tisza Balneum", das auch die vorhandenen Thermalquellen nutzen wird, soll Mitte September eröffnet werden.

Auf den Fahrradwegen, die zum Teil auf Deich- und Dammkronen verlaufen, lässt sich der See bis auf einen kürzeren Abschnitt umrunden. Bei Poroszló führt ein 1,5 Kilometer langer Holzsteg in das Schilf- und Inselland des Sees, das sich somit trockenen Fußes erkunden lässt. Für kulinarische Wonnen sorgen Gasthäuser, die die legendäre Fischsuppe auf Theiß-Art (Grundsuppe mit passierter Brasse, dazu Stücke vom Karpfen oder vom Hecht, ohne Teigeinlagen) kredenzen. (Gregor Mayer aus Tiszafüred/DER STANDARD-Printausgabe, 19.6.2007)