Eine italienische Stummfilmdiva leidet anschaulich: Francesca Bertini als Gräfin, die ein Opfer der herrschenden Doppelmoral zu werden droht, im Melodram "Sangue bleu" (1914).

Foto: Filmmuseum
Eine Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum erinnert nun an ihre Arbeiten und an deren gesellschaftliche Sprengkraft.
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Wien – 1910 hat die 29-jährige Dänin Asta Nielsen einen denkwürdigen Leinwandauftritt. Die Schauspielerin, wenig später einer der ersten Stars des europäischen Films, verkörpert in Urban Gads Afgrunden (Der Abgrund) eine Klavierlehrerin, die einem fahrenden Artisten gefolgt ist.

Der Mann betrügt sie bald mit einer Kollegin, der Kampf um seine Gunst wird auch öffentlich auf der Varietébühne ausgetragen: Im schmal geschnittenen schwarzen Satinkleid mit Fransensaum tanzt die Heldin ihr Begehren. Ihr Gürtel ein Lasso, mit dem sie schließlich ihren Partner bindet, bevor sie sich wieder unverhohlen an ihn schmiegt, an ihm wiegt. Auf der Hinterbühne stehen währenddessen einige männliche Beobachter wie versteinert, vom Zuschauerraum her fliegen Blumensträuße.

Dieses Liebesmelodram mit seiner explizit physischen Komponente ist programmatisch ausgewählt: "Lachende Körper – Exzentrische Gesten. Komikerinnen und Diven im Kino der 1910er Jahre" lautet der Titel der Retrospektive, die Claudia Preschl und Katja Wiederspahn kuratiert haben und die das Filmmuseum derzeit im Rahmen der Wiener Festwochen zeigt.

Die Schau umfasst rund 40 weitere Filme (und sie wird von Vorträgen begleitet). Sie verweist einmal mehr auf die Eigenständigkeit und die Relevanz des lange zu einer Art Primitivstadium deklassierten frühen Kinos. Darauf, dass sich hier Erzählungen, Frauenfiguren finden, die im Zuge der allmählich einsetzenden Domestizierung des neuen, anarchischen Mediums nivelliert wurden. Die Filme spiegeln auch einen Eindruck von jenem sozialen Freiraum wider, den das Kino der ersten Jahrzehnte nicht zuletzt dem weiblichen Publikum einräumte.

Diva oder "Backfisch"

Zwei "Typen" stellt die Retrospektive in diesem Zusammenhang in den Mittelpunkt: die Diva und den "Backfisch". Beiden eignet auch eine ganz spezifische Körperlichkeit. Erstere setzt beispielsweise mehr oder weniger kalkuliert auf die Wirkung ihrer Blicke, unterstreicht dramatische Momente durch ebensolche Gesten. Sie ist – als eine Spielart der Femme fatale – ganz kontrolliertes Raffinement. Aber auch, so wie die italienische Diva Francesca Bertini in der Titelrolle von Assunta Spina (1915), eine tragische Heldin, die Leidenschaften entfacht, ohne dies zu beabsichtigen, und die ihrem Schicksal nicht entkommen kann. Die Bertini spielt diese Figur als Halbabwesende, als wüsste diese schon, dass alles verloren ist.

Der Backfisch dagegen darf sich in ungestümer Bewegung ergehen, grimassieren, stolpern und stürzen, toben und wüten – so wie die Serienheldinnen Rosalie und Léontine: Letzterer kann man in Léontine garde la maison (1912) dabei zusehen, wie sie in kürzester Zeit und größter Unbekümmertheit eine ganze Reihe von Katastrophen auslöst.

Umgekehrt animiert der Freiheitsdrang eines Teenagers aus adeligem Hause (Ossi Oswalda) in Ernst Lubitschs Lustspiel Wenn vier dasselbe tun (1917) selbst verknöcherte Witwen zu tänzerischen Eskapaden. Auch so geraten starre Rollenbilder in Bewegung. (Isabella Reicher, DER STANDARD/Printausgabe, 12.06.2007)