Die Bibliothek im Beau-Rivage Palace.

Foto: Beau-Rivage Palace

Beau-Rivage Palace: Das Gepäck fährt ins Zimmer - mit Stil.

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Grafik: Der Standard

Der Gast des Grand Hotels betritt eine Bühne. Die Treppe dient weniger zur Überwindung von Höhenunterschieden, sie gehört zur Inszenierung, in der soziale Unterscheidungen zelebriert werden. Die Rezeption, der Concierge sind Logen der Beflissenheit, die Bar ein ausgeklügeltes Intermezzo, der Speisesaal nur vermeintlich eine Stätte der Sättigung, vielmehr ein Teil im gesellschaftlichen Stück, in dem man sich der eigenen Bedeutung durch Spiegelung versichert.

 

Als solches ist das Grand Hotel bekannt, beneidet und immer wieder beschrieben worden. Ein Unterton schwingt mit und der lautet: Diese Hotels sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Rückblicke und nostalgische Bildbände werden ihnen gewidmet. Ausstellungen schwärmen von verblichenem Glanz.

Inszenierungen wandeln sich

Aber erstens waren die großen Häuser ja früher auch schon nicht mehr das, was sie noch vorher gewesen waren. Und zweitens dürften die Nachrufe verfrüht sein, denn es gibt viele der namhaften Hotels noch oder wieder, ihre in die Jahre gekommenen Kulissen erhalten einen neuen Anstrich, ihre Inszenierungen wandeln sich.

Zum Ersten: Es hat wohl nie die gute alte Zeit der Grand Hotels gegeben. Was in der rückblickenden Verklärung als operettenhaft homogene Riege von Gentlemen, Aristokratinnen und neureichen Baronen erscheint, entpuppt sich bei genauerem Blick als ungleichzeitiges Nebeneinander von Menschen, die auf den Aufstieg hoffen, und solchen, die vor dem Nichts stehen, dies aber stilvoll verbergen, von Hochstaplern und Understatement-Künstlern.

Vicki Baum hat die Menschen im Hotel in ihrem Bestseller 1929 genau so angelegt. Da ist die Balletteuse am Ende ihrer Karriere, der verarmte Geiger und Betrüger, der verbitterte Arzt, der Generaldirektor und der auf großem Fuß lebende kleine Angestellte. Was sich zwischen diesen Figuren anbahnt, spielt alles in einem Luxushotel. Die aus Wien stammende Baum soll mehrere reale Berliner Schauplätze als Vorbilder im Sinn gehabt haben, das Excelsior, das Kaiserhof, das Bristol, das Eden oder das (heute wieder erstandene) Adlon. Gekannt hat sie sie, gearbeitet aber hat sie trotz anderweitiger Legenden nie als Zimmermädchen in einem der Hotels, sondern immer nur als angestellte Redakteurin im Ullsteinhaus.

Und noch eine Beobachtung aus dem Berlin der Zwanzigerjahre rückt die Grandezza der Häuser zurecht. Kurt Tucholsky lässt sich in der Halle eines großen Hotels - "in einer jener Hallen, in denen es immer aussieht wie im Film - anders tut's der Film nicht" - von einem Psychologen die Gästeschar erklären. Sie ist in der Tat sehr bunt, wenn auch anders, als der Seelenarzt zu analysieren vermeint. Der Hotelportier klärt Tucholsky auf: "Der österreichische Höfling war ein Nähmaschinenhersteller aus Gleiwitz. Die große Hure mit dem Trauerkomplex eine Mrs. Bimstein aus Chicago (...). Der Prokurist der großen Weinfirma war der Clown Grock. Die pummelige Mama war die Besitzerin eines gastlichen Etablissements in Marseille; der freche Geldmann war ein Dichter der allerjüngsten Schule."

"Traumschloss des Bürgers"

Die wirkliche große Zeit der großen Hotels soll vor dem Ersten Weltkrieg gewesen sein. "Traumschloss des Bürgers" nennt sie der Meraner "Touriseum"-Direktor Paul Rösch, den Schlössern der Aristokraten nachempfunden und nicht selten namentlich an sie angelehnt: Majestic, Imperial, Regency usw. Dass es eine reiche, sich aus noch nicht verarmten Adeligen und dem emporstrebenden Unternehmertum rekrutierende Klientel gab, und dass diese durch den Krieg dezimiert wurde, ist unbestritten. Ob sie "besser" war: Wer will das beurteilen?

Sanatorium der gehobenen Klasse

Die Gesellschaft auf dem Zauberberg, die nicht zufällig 1914 auseinanderfällt, hat Thomas Mann jedenfalls sehr schillernd charakterisiert. Zwar war es kein Grand Hotel im eigentlichen Sinn, doch ein Sanatorium der gehobenen Klasse, und es tafelten dort die Etablierten neben denen, die den Umbruch vorausahnen ließen; einem radikalen Querdenker etwa mit genügend Geld für eine lange Kur - "Bobo" würde man heute sagen.

Manche Gäste konnten sich damals, konnten sich auch später der Faszination des Hotels als Bühne nicht entziehen. Nicht weil sie etwas auszukurieren gehabt hätten, sondern weil sie Inspiration fanden, weil sie - frei nach dem Bonmot über das Wiener Kaffeehaus - nicht zu Hause und doch sehr stilvoll nicht an der frischen Luft sein konnten, verlängerten sie ihren Aufenthalt bis zum Status eines Dauergasts.

"Bühne der Literatur"

Unter ihnen waren auffallend viele Literaten. Eine Ausstellung im Münchner Literaturhaus widmet sich noch bis 16. Juni dem Thema "Grand Hotel, Bühne der Literatur". In dem gleichnamigen Buch (das mit Röschs Beitrag beginnt) lassen die Autoren die Schriftstellerinnen und Schriftsteller Revue passieren, die Hotels als Refugium, Büro, Schauplatz der Handlung oder als alles auf einmal genutzt haben. Bei Agatha Christie treiben die Mörder gleich serienweise ihr Unwesen in Hotels, die sie selbst gut kannte. Josef Roth konnte sich das Leben kaum leisten, das er sich in Hotels leisten musste. Klaus Mann wohnte laut Kapitelüberschrift im "Grand Hotel Abgrund" (obwohl dieses zweifelhaft ehrende Etikett eigentlich an der Frankfurter Schule klebt, wegen ihrer Verbindung von Kulturpessimismus und großbürgerlichen Erholungsgewohnheiten).

Am besten getroffen hat es vielleicht Wladimir Nabokow, der seinem Welterfolg Lolita 16 Jahre, von 1961 bis zu seinem Tod, im Montreux Palace verdankt. Nach politischen und sprachlichen Exilen, nach der unbedankten Tätigkeit als College-Professor konnte er sich und seiner Familie eine Suite im vierten Stock, eine wunderbare Infrastruktur und den Blick auf den Genfersee und die Alpen leisten.

Am meisten schätzte Nabokow - neben der Tatsache, dass es im Hinterland Schmetterlinge zu entdecken gab - die schweizer Diskretion und Anonymität. Sie kam ihm ebenso zurecht wie Charlie Chaplin, der im benachbarten Vevey wohnte, oder wie Freddie Mercury, der sich ins Montreux Palace für viele Wochen zurückziehen konnte. Was uns zur Frage zurückbringt, was aus den großen Namen von einst geworden ist.

Am Genfersee kommen zwei Dinge zusammen

Und womit wir gleich in der Gegend bleiben. Denn am Genfersee kommen zwei Dinge zusammen, die Grand Hotels gedeihen lassen: Er liegt in der Schweiz, der Wiege der bürgerlichen Traumschlösser. Und er bietet ein fast mediterranes Flair, ohne das Chaos an den Originalschauplätzen. Man spricht auch von der Waadtländer Riviera oder schlicht von "der Küste".

An der Côte vaudoise liegen die großen Häuser von Genf, Lausanne, Vevey, Montreux und - etwas verblasst - im französischen Evian. Zwei von ihnen mögen als Beispiele herhalten, wie auf den Hotelbühnen weiterhin täglich inszeniert wird.

Im Montreux Palace - 1906 erbaut, 1928 Mitbegründer und bis heute Mitglied der "Leading Hotels of the World", 235 Zimmer, 250 Angestellte - gibt es noch die "Nabokow-Suite". Man kann sie besichtigen, wenn sie nicht gerade belegt ist (besonders gern naturgemäß von russischen Gästen). Manche der Möbel sind noch da, andere auf Fotos festgehalten. Größer allerdings ist die Prachtsuite "Raffles" in der Bel Etage: Das Hotel gehört zur Raffles-Kette und damit zur kanadischen Fairmont-Gruppe. "Wir sind reich an Geschichte", sagt Direktionsassistentin Gisèle Sommer, "aber der Komfort der Modernität muss auch gegeben sein."

"Wunderbar beruhigend oder wunderbar anregend"

Das bedeutet jährliche Investitionen von bis zu vier Millionen Franken, um das Hotel dem geänderten Gästeprofil anzupassen: "Seminarbesucher, die einen Tag bis maximal eine Woche bleiben; große Kongresse mit entsprechender technischer Infrastruktur." Und die Individualtouristen? "Doch, die kommen schon auch, allerdings seit dem 11. September weniger Amerikaner. Dafür mehr Araber." Der Fernblick, den der russische Schriftsteller so geschätzt hat - "wunderbar beruhigend oder wunderbar anregend" - ist der gleiche geblieben. In unmittelbarer Nähe, auf der anderen Seite der leider ziemlich geschäftigen Uferstraße, hat das Palace-Hotel sich etwas Besonderes zum Zeitgeist einfallen lassen: das Amrita-Wellness-Spa, von der Neuen Zürcher unlängst als besonders stilvoll und als das größte seiner Art an der Waadtländer Riviera gelobt.

Auch im Fünf-Sterne-Hotel Beau-Rivage Palace in Lausanne, eine halbe Stunde weiter im Westen, gehört sanfte Fitness zum selbstverständlichen Programm. Cinq Mondes heißt das Spa, weil laut Anbieter die Methoden von fünf Kulturwelten hier zusammenfließen. Es ist ebenfalls dem Hotel vorgebaut und an den See gerückt. Und auch hier i i trennt eine Straße das Hotel vom Genfersee, sodass der Name, Schönes Ufer, nur zum Teil zutrifft.

Doch wer hier absteigt, sucht vermutlich sowieso nicht die Freuden eines kühlen Badesees. "Unsere Gäste", sagt Irmgard Müller, seit mehreren Jahrzehnten Directrice des Hauses, "wollen hier ein zweites Zuhause." Das sei früher so weit gegangen, dass manche ihre eigenen Möbel mitbrachten, "in Zeiten, in denen auch lange Kleider und Smokings beim Diner selbstverständlich waren".

Das ist heute vorbei. Doch man spürt noch deutlich, wie das Beau-Rivage am Anspruch einer ersten Adresse festhält. Der moderne Tourismus hielt nur auf diskret eidgenössische Art Einzug. Für den ersten Bus, der Ende der 1970er mit gerade mal zwei Dutzend US-Touristen ankam, gab es einen eigenen Eingang abseits des großen Tors, das zur mächtigen Lobby führt. "Und nur mehr mit Individualreisenden kann man heute auch nicht mehr arbeiten. Darum gibt es Seminare und Kongresse nun auch bei uns." Incentive-Reisende allerdings hätten dann doch nicht ins Profil gepasst, das habe wieder aufgehört.

Das Beau-Rivage (1861 eingeweiht, 1908 um den Palace-Teil erweitert, in den Neunzigern komplett renoviert, eines der "Leading Hotels of the World", 2006 von Gault-Millau zum Schweizer Hotel des Jahres erkoren; 169 Zimmer und Suiten, 390 Angestellte) ist heute mehrheitlich im Besitz der Sandoz-Familienstiftung, gehört zu keiner Kette, schafft es dennoch (oder gerade deswegen?), mit einer durchschnittlichen Auslastung von 72 Prozent wirtschaftlich zu arbeiten.

Auch wenn die Gäste heute viel kürzer im Haus bleiben, kommen sie, sagt Müller, immer wieder. Und manche bleiben auch durchaus länger: Ein Ehepaar wohnt seit 44 Jahren hier, die beiden sind mittlerweile in den Neunzigern. "Wenn man lange leben möchte, dann soll man im Beau-Rivage wohnen."

Warum solange im Grand Hotel bleiben? Es wird viele Gründe geben, wenn das Geld keine Rolle spielt. Warum Nabokow sein Leben lang kein Haus gekauft und schließlich auch auf das Individuelle einer eigenen Umgebung zugunsten einer allgemeinen Inszenierung verzichtet hat, das hat er als nie gestillte Sehnsucht beschrieben: "Der wahre Grund dahinter ist vermutlich, dass mich nichts zufriedengestellt hätte, was hinter der Nachbildung meiner Kindheitsumgebung zurückgeblieben wäre." Und noch etwas: Das Leben im Hotel "bestärkt mich in meiner liebsten Gewohnheit - der Gewohnheit des Freiseins." (Michael Freund/Der Standard/Rondo/8.6.2007)