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Monoblocks von Australien über Ägypten bis Rio.

Foto: Jens Thiel

"Chairman" Jens Thiel

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Wer in der ostdeutschen Stadt Erfurt auf den Platz vor dem Bahnhof tritt, hat im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Die meisten Menschen nehmen die Straße, die über den Anger in einer langen Kurve durch die Altstadt zum Domplatz führt. Im 8. Jahrhundert war Erfurt ein wichtiger nordöstlicher Außenposten in der Christianisierung Europas, noch heute verrät der Dom etwas von der beeindruckenden Wirkung, die er damals auf die Menschen gehabt haben muss. Wer sich vom Bahnhof aus aber eher links hält, kommt bald in eine Gegend mit alten Fabrikgebäuden und Wohnblocks aus der ehemaligen DDR. Hier lebt in einer stillgelegten Näherei ein Missionar eines eigenwilligen Kults: Jens Thiel verkündet die frohe (und heitere) Botschaft vom Monoblock (oder, ein wenig prätentiöser, Monobloc). Dieser Plastikstuhl, der in geringfügig variierten Designs das vielleicht meistverbreitete Möbel der Welt ist, hat bisher noch nicht überall die Beachtung gefunden, die er verdient.

Jens Thiel ist der Mann um dies zu ändern. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Blick auf dieses vielfach besessene Stück zu lenken. Es ist besessen, weil so viele Menschen eines besitzen, und es wird besessen, weil so oft jemand darauf sitzt. Im Garten, im Freibad, bei der Würstelbude, im Internetcafé: Überall, wo es einen pflegeleichten, billigen Untersatz braucht, findet sich der Monoblock. Er ist allgegenwärtig und wird deswegen häufig übersehen. Jens Thiel hat gelernt, genauer hinzusehen. Er hat die Gabe des zweiten Blicks. In seiner Wohnung steht eine Reihe mit sieben, acht Plastikstühlen (den Gang in den Keller, wo seine derzeitigen Bestände gelagert sind, sparen wir uns). Auf einer Palette, leicht erhöht, steht der Stuhl eins, wie man vielleicht sagen könnte. Das Modell, auf das sein Blick damals bei der Kunstmesse in Frankfurt/Main fiel. Ein Galerist saß darauf und die erste Frage, die Thiel und sein Begleiter Erik Niedling stellten, war noch die von Banausen: "Hat der nichts Besseres?" Die bessere Einsicht kam schnell. "Wir fanden es komisch, dass wir es komisch fanden."

Spielarten innerhalb des Prinzips

Heute ist der Stuhl eingepackt in Tape von der Messe, ein Readymade mit einer Kunstschicht obendrauf. Vom Kunststoff zur Kunst ist es seit dem 20. Jahrhundert nicht mehr weit, der Monoblock hat trotzdem lange auf seinen Duchamp gewartet. Im neuen Jahrtausend ist ja auch die Funktion Duchamp schon so weitgehend demokratisiert, dass ein findiger "Künstler-Unternehmer" wie Jens Thiel aus Erfurt aus einem Alltagsgegenstand ein Objekt machen kann, das plötzlich alle möglichen interessanten Aspekte preisgibt. Da ist erstens die Sache mit dem Design. Natürlich wurde jeder Monoblock irgendwann einmal entworfen. Sie sehen ja auch nicht alle gleich aus, es gibt Spielarten innerhalb des Prinzips, dass jedes Stück eben aus einem Guss ist. Dabei ist das Design der Monoblocks eben "Nicht-Design", wie Jens Thiel sagt, "commodity", also Warenform. Nicht der Name des kreativen Geists ist wichtig, das Ding selbst steht für sich.

Zugleich ist es aber auch nicht einfach Industrieware, denn es behält in den unterschiedlichsten Kontexten seinen Eigensinn, was wiederum mit der besonderen Form des Monoblocks zu tun hat. Wie der schwarze Monolith in Stanley Kubricks "2001 - Eine Odyssee im Weltraum" ist der Monoblock einfach da und wenn man erst einmal auf diese Tatsache aufmerksam geworden ist, erscheint er plötzlich ganz rätselhaft. "Der weiße Plastikstuhl ist ein funktionales Schicksal" - dieser Ausspruch stammt von dem deutschen Schriftsteller Ingo Niermann, der über Jens Thiel einmal einen Text geschrieben hat. Mit dem Begriff "funktionales Schicksal" spielt nun auch die Website, auf der Thiel die globale Präsenz der Stühle dokumentiert (functionalfate). Seit einer Weile schon hat sich herumgesprochen, dass in Ostdeutschland das Zentrum des Plastikstuhlkults liegt, und aus aller Welt langen nun Bilder von "Monojägern" ein, die auf einer Flussfähre in Brasilien oder auf einer Dachterasse in Hongkong, an einem Strand in Israel oder auf einem öffentlichen Platz in Nordkorea das ominöse Objekt aufgespürt haben.

Leicht, aber nicht federleicht

Dabei ist der Stuhl, wie Jens Thiel anmerkt, ein globaler Gegenstand, aber keineswegs ein typisches Produkt der Globalisierung. Er reist nämlich selten weit, sondern wird in der Regeln unweit des Einsatzortes hergestellt. Das hängt wiederum mit typischen Produkteigenschaften zusammen: Der Monoblock ist leicht, aber nicht federleicht, er ist stapel-, aber nicht faltbar, deswegen benötigt er exakt den Raum, den er benötigt. Das heißt, dass er zwar in der Herstellung sehr billig ist, dass in Relation dazu die Transportkosten aber hoch wären. Ein Plastikstuhl in Europa stammt also in der Regel aus Europa, wobei in Italien ein Zentrum der Kunststoffindustrie liegt. Jens Thiel kennt aber Hersteller von Portugal bis Niedersachsen, ein Modell aus Hannover zählt zu seinen "all time favorites".

Der Preis macht den Monoblock dabei fast so verdächtig wie sein Aussehen. "Zehn Euro ist schon teuer", sagt Jens Thiel. In manchen Baumärkten gibt es das Stück um die Hälfte. Das führt zu Missverständnissen, denn in der Konsumgesellschaft ist zwar Geiz geil, trotzdem soll aber alles nach Originalanfertigung aussehen. Vor allem in Städten mit historischen Anlagen kommt es deswegen gelegentlich zu kleinen Kulturkämpfen um den Plastikstuhl, der in Schani- und Gastgärten ein natürliches Habitat hat. Aus Quedlinburg wird von einer Monoblock-Gebühr berichtet, die Holz- oder Metallsitzmöbel begünstigt und den Kunststoffstuhl diskriminiert. Das ist ganz und gar nicht im Sinn von Jens Thiel, der dieses "unsichtbare Massenmöbel" gerade auch in Altstädten angebracht findet und ihn im Übrigen auch als Einrichtungsgegenstand jenseits der Studentenwohngemeinschaft propagiert.

Thiel hat sich inzwischen auch technisch bis ins Detail kundig gemacht und kann sogar den hartnäckigsten Mythos widerlegen, der dem Monoblock anhängt: dass er nämlich umweltschädlich wäre. Zugegeben: Ein Plastikstuhl ist nun einmal aus Plastik, in diesem Fall aus Polypropylen, einem erst nach dem Krieg erfundenen Material, von dem jährlich rund 60 Millionen Tonnen verarbeitet werden. Das geht ins Öl, und Öl ist nicht nur teuer, sondern eben auch gebundener Schadstoff.

Klimapolitische Neutralität

Der Vorteil am Polypropylen ist allerdings, dass es hervorragend wiederverwertbar ist. Nicht einmal Jens Thiel kennt die genauen Zahlen, wie viele Plastikstühle es heute auf der Welt gibt - er entscheidet sich für einen symbolträchtigen Näherungswert und geht davon aus, dass es so viele Stühle wie Menschen gibt. Alle diese Milliarden Sitzmöbel sind im Grunde selbst wieder Rohstoff, wodurch der Monoblock jetzt eigentlich seine klimapolitische immerwährende Neutralität erklären könnte, wäre er nicht dieses stumme Objekt, das er nun einmal ist. Jens Thiel hat aus der Beschäftigung damit eine Menge gelernt: "Meine Sicht auf die Welt hat sich verändert. Sie ist kleiner geworden, selbstverständlicher." Die exotischen Distanzen zwischen Erfurt (in dessen Altstadt der schmiedeeiserne Stuhl mit Sitzfläche aus Holzplanken vorherrscht) und Amazonasdschungel (wo das Klima nach abweisenden Oberflächen verlangt) schrumpfen für die Gemeinde des Monoblocks auf den Unterschied zwischen verschiedenen Mattheitsgraden des Polypropylen-Pellets.

Derzeit hat Jens Thiel eine kleine Auszeit genommen. Ein Manuskript, in dem er sein enormes Wissen zum Thema niederlegen möchte, ist halbfertig, kann aber erst nach der Grundsteinlegung für "Die Große Pyramide" wieder in Angriff genommen werden ( thegreatpyramid ). Mit diesem Kunstprojekt einer globalen Universalgrabstätte soll am Ende, in einigen Jahren, an einem Ort nahe der Stadt Dessau sogar die Cheops-Pyramide übertroffen werden. Noch ist nicht ganz klar, wie weit das bloß Konzeptkunst ist. Aber Jens Thiel pocht auf die Ernsthaftigkeit des Unterfangens. Irgendetwas muss in Erfurt in der Luft liegen, das unwillkürlich an lange Zeiträume denken lässt. Vielleicht ist es dieser Dom, auf den man ständig stößt, wenn man durch die Stadt geht. Die Warenwelt denkt in Saisonen und nicht in Jahrtausenden. Auch das macht den Monoblock zu einem außergewöhnlichen Objekt. Er ist im Grunde unzerstörbar, auch wenn er einmal zerbricht. Er wird die Menschheit überleben, so viel scheint sicher. Wenn die große Pyramide jemals fertig werden sollte, dann wäre dies das logische Bild für die Gleichenfeier: Ganz oben, auf dem letzten Stein, steht ein Monoblock - der Weltenthron der Moderne. (Bert Rebhandl/Der Standard/rondo/08/06/2007)