Johan Libéreau in Techinés Les Témoins.

Foto: identities
Wien – Im Programmheft zum am Donnerstag beginnenden Identities-Filmfest schreibt die Veranstalterin Barbara Reumüller etwas Merkwürdiges: "Von unserem ultimativen Ziel – der Auflösung des Festivals", heißt es, "sind wir leider noch weit entfernt." Ein Filmfestival, das sich zum Ziel setzt, nicht mehr zu existieren? Erst auf den zweiten Blick erschließt sich die Logik hinter dem Gedanken. Irgendwann nämlich wird es nicht mehr nötig sein, auf queere Belange gesondert aufmerksam zu machen, weil sie automatisch den gebührenden Respekt erfahren, "weil rechtliche Gleichstellung" und "selbstverständlich gelebte sexuelle Differenz", wie Reumüller formuliert, "zur alltäglichen Realität in Österreich gehören".

Filmische Lehren

Gute Lehrer sind so. Sie wollen eine Situation erwirken, in der ihre Schüler ihrer nicht mehr bedürfen. Ein bisschen traurig ist es aber doch, wenn Identities einen Zustand herbeisehnt, in dem das Festival überflüssig wäre, ohne dabei von der dem Kino eigenen Erfahrung zu sprechen. Denn geraten nicht die Maßstäbe durcheinander, wenn es bei einem queeren Filmfestival nicht in erster Linie um die Filme, deren Ästhetik und die Lust daran geht, sondern um Politik, um rechtliche Gleichstellung und die Überwindung von Diskriminierung? Sind Filme nicht viel zu eigenständig und widerborstig, als dass sie sich auf eine politische Funktion reduzieren ließen?

Zum Glück ist das Programm des Festivals zu reichhaltig, als dass dem etwas eng gefassten Geleitwort allzu viel Gewicht zufiele. Und gerade diese Reichhaltigkeit ist der beste Beleg dafür, dass auch in Zeiten, in denen Ang Lees schwule Cowboys mit großer Selbstverständlichkeit durch die Arthouse-Kinos reiten, noch Bedarf an einem eigenen Ort für queere Filme herrscht. Denn ein Festival wie Identities kann das große Terrain zwischen Coming-out-Komödie und Experimentalfilm in einem Maße abstecken, wie man es von anderen Filmfestivals nicht kennt.

Wer das Privileg hat, zu A-Festivals zu reisen, wird dort meist eine Begehrenslandschaft vorfinden, die wenig Abwechslung verheißt. Von ein paar Ausnahmen abgesehen gilt dort, was der New Yorker Literarturwissenschafter Michael Warner in seinem Buch The Trouble with Normal notierte: "Von der Zahnpastawerbung bis zum Heldengedicht", heißt es dort, "überall finden Heterosexuelle eine bestimmte Version ihrer Heterosexualität widergespiegelt."

Schwulen, Lesben, transidentischen Menschen und Polysexuellen ist so viel Sichtbarkeit nicht vergönnt, schon gar nicht in Cannes oder Venedig. Der Wunsch der Veranstalter nach dem Obsoletwerden des Festivals bedarf also einer Ergänzung. Erst wenn die Kinoleinwände ganz selbstverständlich jener Vielfalt gerecht werden, die sich vom Feel-Good-Movie über den anspruchsvollen Autorenfilm, vom experimentellen Kino über die thematisch bedeutsame Dokumentation bis hin zum Klassiker erstreckt, erst dann ist Identities überflüssig.

Der diesjährigen Programmauswahl kann man Mangel an Vielfalt nicht vorwerfen. Chantal Akermans Klassiker aus dem Jahre 1974, Je tu il elle, findet darin genauso Platz wie John Cameron Mitchells polysexuelle Komödie Shortbus aus dem vergangenen Jahr, prominent besetztes, narratives Kino wie André Techinés Les Témoins ebenso wie Super-8-Filme von Derek Jarman, Dokumentationen über Hate-Crimes wie The Brandon Teena Story von Gréta Olafsdóttir und Susan Muska oder Au delà de la haine (Jenseits des Hasses) von Olivier Meyrou ebenso wie Trash: 18.15 Uhr ab Ostkreuz von Jörn Hartmann verlegt einen Miss-Marple-Plot in den Berliner Tuntenuntergrund rund um Ades Zabel.

Kühnheit in Nischen

Techinés Les Témoins, einer der Höhepunkte im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale, führt zurück in die Zeit, in der Aids erstmals diagnostiziert wurde. Fünf Figuren erfahren – mehr oder minder am eigenen Leib –, was das bedeutet. Techiné beherrscht dabei die Kunst, ein großes Erzähltempo vorzugeben und viele Handlungsfäden zu entwickeln, ohne dass Les Témoins deshalb unübersichtlich oder überfrachtet geriete.

Indem Identities schließlich viele Exkursionen in die Filmgeschichte anbietet, macht das Festival auch mit den Reichhaltigkeiten der Vergangenheit vertraut. Dabei ergibt sich eine bemerkenswerte Verschiebung. Denn der ästhetische Wagemut, den das queere Kino in den 70er- und 80er-Jahren behauptete, ist heute nicht mehr ohne Weiteres anzutreffen. Ein wenig ist das, als zögen sich Kühnheit und Experimentierfreude umso tiefer in die Nischen zurück, je größer gesellschaftliche Anerkennung und rechtliche Gleichstellung würden. (Cristina Nord, DER STANDARD, Printausgabe, 06.06.2007)