Bild nicht mehr verfügbar.

Christdemokrat Yves Leterme (li.) hat beste Chancen, Premier Guy Verhofstadt (Mi.) zu beerben. Sozialist Elio Di Rupo (re.) hat nur Außenseiterchancen, obwohl ihn die protestierenden Stahlarbeiter unterstützen.

Foto: AP

Infografik: Parlamentswahl in Belgien

Am kommenden Sonntag wählt Belgien ein neues Parlament. Die Kluft zwischen Flandern und der Wallonie wird immer größer, schreibt Michael Moravec aus Brüssel.

***

Um 20.19 Uhr unterbrach der öffentlich-rechtliche belgische Fernsehsender RTBF sein Programm wegen eines außerordentlichen Ereignisses: "Dies ist eine schwere Stunde. Flandern wird einseitig seine Unabhängigkeit erklären. Belgien existiert nicht mehr."

Reporter berichteten von der neuen Staatsgrenze mit der Wallonie, die Straßenbahn stoppt an der Grenze der Region Brüssel zu Flandern. Hunderte Menschen versammelten sich vor dem Königsschloss in Brüssel, vor den TV-Schirmen in öffentlichen Lokalen weinten die Menschen.

Eine TV-Satire im Stil von Orson Welles erschütterte im vergangenen Dezember Belgien mehrere Tage. Auch Botschafter, Politiker und internationale Organisationen hatten die Sendung für einen Tatsachenbericht gehalten - weil eine Trennung des Landes immer realistischer wird.

Die Sendung habe die Wallonen mit der Realität konfrontiert, jubelte das belgische Gegenstück zu Jörg Haider, der Chef des fremdenfeindlichen Vlaams Belang, Filip Dewinter. Wütend waren hingegen die frankophonen Sozialisten. Deren Parteichef Elio Di Rupo meinte: "Zu einem Zeitpunkt, wo unser Land von separatistischen Bestrebungen erschüttert wird, ist das unverantwortlich und nicht staatstragend." Ob Belgiens Existenz auf dem Spiel steht, ist schwer zu sagen - als sicher gilt, dass der Spalt zwischen Flamen und Wallonen immer größer wird, wirtschaftlich wie gesellschaftlich.

War in den 70er- und 80er-Jahren noch die französische Wallonie im Süden der reichere Landesteil, so hat sich das Verhältnis seither gründlich umgedreht. Die Stahlindustrie in den südlichen Regionen rund um Namur und Charleroi hat zehntausende Beschäftigte abgebaut und viele Fabriken geschlossen. In manchen Teilen liegt die Arbeitslosigkeit bei bis zu 25 Prozent. Dennoch haben die tief in der Bevölkerung verankerten Gewerkschaften nach wie vor große Macht, was sich auf Neuinvestitionen entsprechend auswirkt.

Flandern hingegen erlebte mit seinen Häfen und der modernen Chemieindustrie einen Boom. Die Arbeitslosigkeit liegt bei durchschnittlich nur zwei Prozent, mehr als 30.000 Jobs können im Großraum Antwerpen nicht besetzt werden.

In jedem anderen Land würde deswegen eine Völkerwanderung vom Süden in den Norden einsetzen, so wie es auch noch immer Menschen vom Osten Deutschlands in den Westen zieht.

Nicht so jedoch in Belgien. Kein Wallone will nach Flandern, so wie auch Flämisch für die meisten frankophonen Bürger eine Fremdsprache bleibt: Nur 23 Prozent sprechen laut einer Umfrage die andere Sprache ihres Landes, während 56 Prozent der Flamen auch Französisch können. Wissenschafter sprechen von einem sozialen Phänomen: Lieber akzeptieren die meisten Wallonen jahrelange Arbeitslosigkeit, als auch nur 200 Kilometer nach Flandern "auszuwandern".

In Flandern wird die Wallonie hingegen zunehmend als "schwerer Rucksack" angesehen. Rund zehn Milliarden Euro werden jährlich vom Norden in den Süden transferiert, doch die Strukturreformen bleiben aus. Dieser Konflikt ist auch das Hauptthema im Wahlkampf. Da auch getrennt gewählt wird (siehe "Wissen"), unterstützen die meisten Parteien in Flandern mehr oder weniger die Teilungsbestrebungen. Der Vlaams Belang tritt offen für die Abspaltung ein, Christdemokraten und Liberale wollen zumindest "mehr Eigenständigkeit" der Regionen. In der Wallonie sind sich alle Kräfte einig, dass Belgien erhalten bleiben muss.

Neuer Premierminister Aus den meisten Umfragen geht hervor, dass Belgien ein Machtwechsel bevorsteht. Die Liberalen unter Premierminister Guy Verhofstadt werden vermutlich bis zu ein Viertel ihrer Stimmen einbüßen. Verhofstadt trat vor acht Jahren und bei seiner Wiederwahl 2003 mit dem Slogan an, Belgien völlig zu erneuern und das Hochsteuerland wettbewerbsfähiger zu machen. Keines seiner Ziele hat er bisher erreicht, er leidet politischen Kommentatoren zufolge unter einem großen "Glaubwürdigkeitsproblem". Das könnte dem Chef der flämischen Christdemokraten, Yves Leterme, zugute kommen.

Er gilt als der nächste Premierminister Belgiens, seine Partei könnte bis zu 30 Sitze in der 150 Sitze umfassenden Kammer der Repräsentanten erreichen, auf bis zu 15 Sitze werden vermutlich seine christdemokratischen Kollegen aus der Wallonie kommen. Als zweitstärkste Kraft sollten sich die Sozialisten behaupten können, sie erreichen den Umfragen zufolge in der Wallonie 23 Sitze und in Flandern 19 Mandate. Platz drei sollte trotz Verlusten den Liberalen bleiben, sie könnten in beiden Landesteilen zusammen 30 bis 35 Mandate bekommen. Der Vlaams Belang, der nur in Flandern antritt, könnte 19 bis 20 Mandate erreichen (und wäre damit in Flandern weiterhin zweitstärkste Kraft).

Die darauf folgenden Koalitionsverhandlungen könnten sich in die Länge ziehen. Derzeit regieren die Liberalen zusammen mit den Sozialdemokraten. Die meisten politischen Beobachter in Belgien gehen davon aus, dass die Christdemokraten die Liberalen in der Regierung ersetzen werden. (DER STANDARD, Printausgabe, 5.6.2007)