Kathrin Groß-Striffler, "Gestern noch". € 18,50/211 Seiten. Aufbau-Verlag, Berlin. 2007.

Buchcover: Aufbau-Verlag
Das Land, so will es der bis heute das urbane Bewusstsein prägende Kanon der österreichischen Nachkriegsliteratur von Bernhard bis Innerhofer, ist eine einzige Ausgeburt des Stumpf- bis Schwachsinns, darüber hinaus selbstverständlich stets Brutstätte des Faschismus, sei er ein alltäglicher oder ein welthistorisch wirksam gewordener. In Zeiten des Privatfernsehens dürfen die Dörfer und ihre Kuhställe außerdem noch als Schauplatz von Formaten herhalten, in denen der Bauer eine Frau sucht und mit ihr eine Realityshow zeugt.

Die Enge der Provinz und der in ihr vorherrschende Terror allgegenwärtiger sozialer Kontrolle werden auch in Kathrin Groß-Strifflers Gestern noch nicht ausgespart, doch mit dem selbst zutiefst provinziellen Provinz-Bashing hat der neue Roman der in Jena lebenden Döblin-Preisträgerin nichts am Hut. Vielmehr hebt die Autorin die "friedliche Abfolge der Jahreszeiten" am ländlichen, bäuerlich geprägten Rand einer fränkischen Kleinstadt hervor und beglaubigt diese doch gefährlich nah am Ökokitsch angesiedelte Behauptung mit berückenden Schilderungen; und die Geburt eines Fohlens wird sogar zum ergreifenden Elementarereignis, das "alle Schönheit der Erde" bündelt.

Angetan vom im Übrigen keineswegs idyllisch dargestellten bäuerlichen Leben ist auch die Gymnasiastin Maria, die zum Reiten in jene Gegend kommt, "wo das Städtchen in Ackerland überging". Wie eine Außerirdische wirkt die hübsche, elegante Tochter der "Frau Doktor" zunächst auf den Ich-Erzähler Nikolas, der mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder Johann einen Bauernhof bewirtschaftet. Hat der Junge, der selbst als Erster in der Familie eine höhere Schule besucht, bisher die Ärmlichkeit seines Zuhauses als selbstverständlich erlebt, genügt jetzt allein die Anwesenheit des Mädchens aus dem "Millionenviertel", um die Schäbigkeit des abgewohnten Bauernhauses zu "entdecken", mehr noch, sein ganzes bisheriges Dasein zu verfremden. "Plötzlich schämte ich mich. Und schämte mich, dass ich mich schämte ..." Maria hingegen lässt sich von der Mischung aus Misstrauen und Bewunderung, mit der man ihr begegnet, nicht weiter beirren - und irgendwann begibt sich das Unerhörte: Die Bürgertochter, die doch alle haben könnte, "die Besten, die Reichsten, sie müsste nur mit dem Finger schnippen!", verliebt sich in den meist wortkargen Jungbauern Johann, der noch dazu nicht mehr besonders jung ist. "Öl und Wasser vermischen sich nicht", kommentiert seine Mutter die in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts anscheinend immer noch "unmögliche" Liebesbeziehung über soziale Schranken hinweg.

Doch die beiden sind fest entschlossen zu heiraten. Während Johanns Mutter, wie alle Figuren behutsam, aber ungeschönt - gleichsam in der Tradition der flämischen Malerei - gezeichnet, schließlich ihren Segen gibt, lehnen Marias Eltern, vor allem der gefühlskalte, vom klassischen Klassendünkel beherrschte Vater, die unstandesgemäße Verbindung schroff ab. Wenn die sonntagsgewandeten Bauersleute in einer skurril anmutenden Prozession zum Antrittsbesuch aus der Unter- in die Oberstadt zu Marias Eltern pilgern, die als Apotheker und Ärztin die Kleinstadtelite geradezu prototypisch vertreten, gelingt Kathrin Groß-Striffler eine jener vielen einprägsamen Passagen, in denen sie die All- und Ohnmacht der sozialen Differenzen vorführt. Der nicht mehr stattfindende Klassenkampf tritt auf in Gestalt einer mit lächerlicher Arroganz und peinlicher Unterwürfigkeit aufgeladenen Nicht-Begegnung, die womöglich jener gleicht, wenn G8-Chefs auf globale Armenhäusler treffen.

",Der Tag wird kommen, an dem Sie es bereuen werden!'", sind die einzigen Worte, die Marias Vater seinem Schwiegersohn mit auf den Weg gibt. Er scheint Recht zu behalten, denn Maria fügt sich zwar scheinbar mühelos ins harte Landwirtinnendasein, doch nicht nur Nikolas merkt bald, dass das "beschränkte Leben" an der Seite eines zwar aufrichtig liebenden, aber fantasielosen Mannes sie traurig macht und verkümmern lässt. Nikolas ist der Einzige, dem sich Maria anvertraut. Doch der wird bald wegziehen - in eine wirkliche, große Stadt, zum Studium und eigentlich, um Schriftsteller zu werden. Er wird es sein, der die unmögliche Liebesgeschichte von Maria und Johann - und die noch unmöglichere zwischen Maria und Nikolas - schließlich niederschreiben wird. Als "Denkmal in Form einer schlichten, bescheidenen Erzählung, so schlicht und bescheiden wie die Menschen, von denen sie handelt", schreibt Nikolas am Anfang, und fügt hinzu: "Ich hoffe, sie wird mir gelingen."

Ja, Kathrin Groß-Strifflers Geschichte ist geglückt, ihre Figuren wurden mir so vertraut, als hätten sie mich nicht bloß während des Lesens, sondern schon durchs ganze Leben begleitet, und das tun sie auch noch, nachdem ich das Buch längst zurück ins Regal gestellt habe. Gestern noch ist eine gelungene Erzählung über das Ende der Kindheit, über den Schmerz des Abschieds und des Aufbruchs, über die Rebellion gegen vorgezeichnete biografische Muster und das Sich-Fügen in unabänderliche Ordnungen, über die Freiheit und Grausamkeit, Entscheidungen treffen zu müssen, über die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Nebeneinander von quasi-feudalen und pseudo-modernen Lebensentwürfen; es ist ein Roman über das Unhaltbare und das, was bleibt, ein Buch über riesengroße, furchtbar komplizierte Themen also. Dass er tatsächlich schlicht und bescheiden erscheint, veranlasst zu einer kleinen Korrektur: Gestern noch ist nicht bloß gelungen, es ist ein Meisterwerk. (Ewald Schreiber/ ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 02./03.06.2007)