Gerhard Roth, geboren 1942 in Graz, ist seit 1976 freier Schriftsteller. Er ist Träger zahlreicher Literaturpreise, etwa des Alfred-Döblin-Prises 1983 und des Bruno-Kreisky-Preises 2002. Roth bezeichnet sich selbst als "vom Schreiben im besten Sinne besessener".

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Das zweite Mal kann ich mich schon orientieren und weiß, worauf ich achten muss. Bevor ich aber aufbreche, höre ich mich um und erfahre "unter dem Siegel der Verschwiegenheit" von einem ehemaligen Mitarbeiter im Lager, dass ein Amtsdirektor im Auftrag des Traiskirchner Lagerleiters Franz Schabhüttl "Brandkontrollen" durchführe. Er besichtige jeden Tag zu verschiedenen Zeiten unter diesem Vorwand jedes Zimmer, jeden Raum. Er gelte als "Spion" und erfülle seinen Auftrag lückenlos. Schabhüttl sei ja Polizist gewesen, ein "Polizeifuchs", und sein Zugang zu seiner Arbeit der eines Polizeibeamten geblieben. Er verfolge deshalb die Sozialarbeit mit Argwohn, mache sie lächerlich und verunglimpfe sie.

Im Grunde sei er der Meinung, dass man "das alles" nicht brauche. Engagierte Sozialarbeiter stellten für ihn eine Gefahr dar, da sie sich immer auf die Seite der Flüchtlinge schlügen, deren Probleme vertreten und ihm nur Schwierigkeiten bereiten würden. Bei Streitigkeiten werfe er automatisch alle beteiligten Flüchtlinge aus dem Lager, diese müssten dann von Sozialarbeitern anderswo wieder untergebracht werden. Es sei sinnlos, sich bei Schwierigkeiten mit ihm zu besprechen, man müsse schon einen Umweg finden. Zwar toleriere er Soziales und verkaufe es auch stolz, in Wahrheit sei er aber nach wie vor skeptisch, was dessen Notwendigkeit betreffe.

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Wilhelm Brunner wird hingegen "Bemühen" attestiert. An European Homecare aber lässt der Augenzeuge kein gutes Haar und bezeichnet die Organisation abwertend als "gewinnorientiert" und "verlängerten Arm der Regierung". Sie sei auch den NGOs ein Dorn im Auge, diese würden ihr fehlendes Verständnis für die Betreuungsarbeit vorwerfen. Herr Brunner selbst ist von diesem Urteil, wie ich später feststelle, verletzt und versucht, über die anderen trotzdem kein schlechtes Wort zu sagen. Heftige Kritik wird von mehreren Seiten an der Bezirkshauptmannschaft Baden geübt, vor allem was die rigorose Ablehnung der Asylanträge betreffe.

Ein Beamter, dessen Bescheide in der Regel nicht rechtskonform seien, steht im Mittelpunkt, er wird als "präpotent und frech" beschrieben und gebe rasch verbale Drohungen von sich. Er habe es auch zu verantworten, dass es häufig zu Fällen von Schubhaft komme, die nachträglich wieder aufgehoben werden müsse, da sie von ihm zu Unrecht verhängt worden sei. Die betroffenen Asylanten würden dadurch jedoch traumatisiert. Der Geist der Fremdenpolizei in der Bezirkshauptmannschaft Baden sei von "Gehässigkeit erfüllt", sagt der Informant wörtlich. Er macht mich auch darauf aufmerksam, dass man das "wahre Gesicht des Lagers" erst erkennen könne, wenn mehr als 1000 Migranten und Asylanten sich in ihm aufhielten. Dann sei die Luft in den Räumen "stickig". Speziell bei der Essensausgabe herrsche "knisternde Spannung", bestätigt er.

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Als ich mich am 13. April dem Eingang des Lagers nähere, fallen mir in Pkws schlafende Asylanten am Straßenrand auf. Hinter dem Portiergebäude ein Hundezwinger für drei Schäferhunde. Einer von ihnen säuft gerade an der Leine eines Beamten der Siwach aus einem Napf. Franz Schabhüttl und Wilhelm Brunner erzählen mir gleich darauf, dass Fälle von Masern aufgetreten seien, und geben mir die Zahl der heutigen Belegung mit "nur 486" bekannt. Aber die Anlage wirkt viel lebendiger als das erste Mal. Vielleicht, weil ich früher gekommen bin. In der Kindergartenbaracke herrscht reger Betrieb, ein Mädchen mit Weihnachtsmann-Mütze träumt neben seiner Mutter vor sich hin, der Fernsehapparat läuft, und Chinesen- und Mongolenkinder strecken sich auf grünen Fauteuils aus, sehen fern oder setzen Puzzles zusammen. Im angrenzenden Klassenzimmer findet vor acht Männern und einer Frau Sprachunterricht statt, und auf dem Basketballplatz ist ein Spiel im Gange.

Wieder befällt mich Misstrauen, dass alles nur inszeniert ist und diesmal "Normalbetrieb" vorgeführt wird. Auch die Aufnahmestraße ist bevölkert, ich zähle siebzehn Personen, Männer, Frauen und drei Kinder. Ein Schwarzafrikaner schläft auf einer Bank. Das daktyloskopische Gerät ist in Betrieb, ein Polizeibeamter mit Gummihandschuhen drückt routiniert den Finger eines kurzhaarigen Mannes in Jeans, Turnschuhen und einem Polohemd auf den Scanner. Die vergrößerte Fingerbeere taucht auf dem Bildschirm auf, die feine Struktur von Parallelen und filigranen Turbulenzen ineinander übergehender Linien.

Weiter: Im Speisesaal: Alle, mit denen ich spreche, kritisieren, dass sie nicht arbeiten dürfen

Im Speisesaal kommen wir diesmal zum Essen rechtzeitig. Allmählich füllt sich der große Raum. Es wird wieder das Freitagsessen serviert: Fisch, Kartoffeln, als Vorspeise Leberknödelsuppe, als Nachspeise eine Orange oder ein Apfel. Dazu kann Brot nach Bedarf aus einem Kunststoffbehälter entnommen werden. Mir fällt auf, wie viele Jugendliche und Kinder an den Tischen sitzen. Auch eine Frau mit seltsamem Gehabe, die Haare im Gesicht, einen braunen Topfhut auf dem Kopf, ist darunter, die offensichtlich psychisch krank ist. Sie wird nicht weiter beachtet, jeder konzentriert sich auf sein Essen.

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Während ich die Suppe zu mir nehme, treten zwei Männer, Palästinenser, wie sich herausstellt, an den Tisch und beschweren sich bei Herrn Brunner, dass nur heute das Essen gut sei, sonst gebe es so etwas nie. Einer der beiden stellt sich als Journalist vor und erklärt, dass er schon vierzehn Tage im Lager sei, aber noch nie eine Orange zu Gesicht bekommen habe. Herr Brunner und ein Schwarzafrikaner, der für den reibungslosen Ablauf sorgen soll, verwickeln die beiden in eine Debatte, aber nun kritisieren auch zwei weitere Asylanten den Speiseplan. Ein Schwarzafrikaner, der am selben Tisch sitzt wie ich, lässt inzwischen alles bis auf den Salat stehen und kostet nur vom Fisch, der ihm nicht schmeckt – anstelle der Kartoffeln sei er Yam-Wurzeln gewöhnt, sagt er. Ich habe die Mahlzeit aber gut gefunden, und die meisten im Speisesaal machen – zumindest heute – einen zufriedenen Eindruck. Ich bleibe eine Dreiviertelstunde. Mir ist klar, dass ich auch bei weiteren Besuchen kein umfassendes Urteil über den Betrieb im Lager und den normalen Alltag würde abgeben können. Alle, mit denen ich spreche, kritisieren, dass sie nicht arbeiten dürfen. Das geschehe wohl, sagt Herr Brunner, um Österreich nicht als Asylland attraktiv zu machen.

Weiter:Gespräche mit der Psychologin

Selbst die Psychologin kann ich an diesem Tag sprechen, sie ist allerdings durch die Anwesenheit meiner Begleiter auffallend vorsichtig. Ich frage sie nach den Traumatisierten. Die meisten kämen aus der Russischen Föderation, Afrikaner suchten sie weniger auf, antwortet sie. Wenn die Flüchtlinge im Lager wieder mehr Zeit hätten und zu sich kämen, kehrten auch die schrecklichen Erinnerungen verstärkt ins Bewusstsein zurück. Traumatisierte könnten untereinander nicht über ihre Probleme sprechen. Zudem hingen sie in der Luft: Der Ausgang ihres Verfahrens sei ungewiss, sie dürften nicht arbeiten, hätten wenig Geld und spürten, dass sie nicht willkommen seien, so wie sie es erwartet hätten. Arbeit sei für sie das Allerwichtigste. Keiner käme – darin sind sich auch Schabhüttl und Brunner einig -, um, wie sie sagen, "in der sozialen Hängematte zu liegen". Vom Augenblick an, an dem sie arbeiten dürften, würden die Flüchtlinge auch nicht mehr die Beratungsstelle aufsuchen, ergänzt die Psychologin.

Kaum hat sie den Satz beendet, wird die Tür aufgerissen, und ein Mann tritt ohne anzuklopfen ein, geht aber sofort, als er Herrn Schabhüttl registriert, wieder hinaus. Es ist tatsächlich, wird mir auf meine Frage bestätigt, der so genannte "Brandschutzbeauftragte" gewesen, von dem die Rede war. Ich benutze die Gelegenheit, um mich nach dem Beamten bei der Fremdenpolizei in Baden zu erkundigen, der angeblich die Flüchtlinge mit seinen Asylverfahren schikanieren soll. Herr Schabhüttl ist jedoch voll des Lobes für ihn und gerät in einem Atemzug über ihn und den "Brandschutzbeauftragten" ins Schwärmen.

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Auf meine Frage nach den größten Problemen im Lager antwortet die Psychologin später: Gewalt jeglicher Art, Streit zwischen Ehepaaren oder Verzweiflung über die Trennung, Unruhe, Schlaflosigkeit, Depressionen, Mobbing, auch Frauen gingen aufeinander los. Im Objekt 8, erfahre ich weiter, im Frauenhaus, wohne jetzt die Asylantin mit dem braunen Topfhut, die ich im Speisesaal gesehen habe, in einem Einzelzimmer, sie bekäme einen Sachwalter. Es gebe Psychotiker, die durch die ganze Welt "tingelten", erklärt die Psychologin.

Vor dem Lagerausgang weist mich Franz Schabhüttl auf das Biotop mit zwei Rotwangenschildkröten hin, die träge durch das braune Wasser paddeln, und die schönen Goldfische. Auch zwei oder drei Aale gebe es. Vor allem aber brütete eine Wildente hier, European Homecare müsse für den Entenlaufsteg sorgen, berichtet er stolz.

Ich sage zum Abschied, dass ich in zwei Tagen zur Schubhaft in die "Liesl" an der Rossauer Lände gehen würde. Der Kanton Bern in der Schweiz, antwortet Herr Brunner daraufhin, würde abgelehnte Asylwerber in einen Bergstollen am Jaunpass "verfrachten", damit die Asylanten das Weite suchten. Zu Hause finde ich im Internet unter www.tagesschau.de den Artikel vom 9. Juni 2004, daraus geht hervor, dass es sich um einen kalten, fensterlosen Betonunterstand in 1500 Meter Höhe handelt, in dem 100 Menschen untergebracht werden können. Diese würden mit der Absicht in den Bunker geschickt, erklärt die Polizei- und Militärdirektorin Dora Andres, "dass sie wissen, wir sind wirklich nicht mehr willkommen, wir müssen den Entscheid, dass wir illegal sind, akzeptieren und die Schweiz verlassen". In Australien geht man noch brutaler vor, dort sperrt man illegale Immigranten in umzäunte Lager auf einer Insel weg, lese ich später in Umgang mit Flüchtlingen von Wolfgang Benz.

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Bevor ich das Rathaus am Hauptplatz von Traiskirchen betrete, habe ich die barocke Pestsäule mit einer Figur des Heiligen Sebastian fotografiert, der von vier vergoldeten Pfeilen in den Beinen und der Brust getroffen ist. Der sozialdemokratische Bürgermeister Fritz Knozter hat, nachdem ich den ersten Termin nicht einhalten konnte, keinen weiteren für mich frei. Irgendwann, sagt sein Sekretär Andreas Babler, der ihn vertritt, habe sein Chef einem Journalisten gegenüber eine unbedachte Äußerung über Lagerbewohner gemacht, und das sei dann in der Presse "breitgetreten" worden. Er will aber darauf nicht eingehen. Und als Herr Babler mir den Gemeinderatsbeschluss erläutert: sofortige Reduzierung der Migranten und Asylanten im Lager auf 300 und mittelfristig die Schließung des Lagers – "Wir wollen das Lager weghaben, aber wir haben keine Kompetenz!" -, fallen mir wieder die Pestsäule und der Heilige Sebastian vor dem Rathaus ein. Der Flüchtlingsstrom wird wie eine Krankheit, eine Seuche aufgefasst, und die Menschen werden wie Krankheitsüberträger behandelt, vor denen man sich schützen muss.

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Auch ich bin offensichtlich nicht ganz willkommen, ich sitze mit Herrn Babler im Vorzimmer in einer kleinen Warteecke, und der Gemeindesekretär hat sich für mich ein Programm zurechtgelegt, das er eilig herunterspult. Inzwischen kommt der bisher abwesende Bürgermeister herein, der, wie Herr Babler sagt, den Weg "der menschlichen Mitte" gehen wolle, und verdrückt sich in seinen Amtsraum. Durch die kurz geöffnete Tür erkenne ich einen Wollteppich mit dem heimischen Kirchenmotiv. Auch hier Misstrauen und Klischeeantworten, man befindet sich eben in einer Zwangslage. Wir sind ein Land der Hochkultur einer täglich praktizierten Zwangslage. Herr Babler hat es außerdem eilig – eine Sitzung ist anberaumt. (Gerhard Roth, DER STANDARD; Printausgabe, 21.5.2007)