Dem Sherry sind in Jerez mehrere Kathedralen gewidmet.

Foto: Fremdenverkehrsamt Jerez
Als Maria del Mar Moreno ohne Tupfenrock und Rüschenbluse die Bar betritt, ist sie kaum zu erkennen. In Jeans und Turnschuhen geht sie schnurstracks zur kleinen Flamencobühne, um ihr Können heute Abend noch einmal unter Beweis zu stellen.

Santiago ist für Flamencoliebhaber ohne Zweifel zur Pilgerstätte in Jerez de la Frontera geworden. Viele der hier lebenden Künstler, wie auch Maria, bieten in Tanzstudios ganzjährig Kurse, wenn sie nicht gerade auf der Bühne stehen. Abends trifft man sich in den Tablaos, den Flamencostuben des Viertels - aber eben inkognito. Denn Santiago ist auch Wohnort mit alter Kirche, kleinen Geschäften und gemütlichen Cafés.

Auf den ersten Blick wirkt Jerez überschaubar, entspannt und ruhig. Abends gibt es wenig Rambazamba, und es verwundert kaum, dass die Stadt in den AndalusienReiseführern oft nicht mehr als zwei Seiten Kurzbeschreibung bekommt.

Jerez hat noch weitere Seiten. Pulsierende, glänzende - und eine, die einen die Nächte durchmachen lässt. Eine Seite, die Flamencofestival heißt. Für zwei Wochen im Februar findet in Jerez de la Frontera eines der weltweit wichtigsten Festivals dieser Kunstform statt, die sich aus spanischer Folklore, indischen, maurischen und jüdischen Einflüssen gebildet hat. Dass das Festival ausgerechnet in Jerez, der verschlafenen Wirtschaftsmetropole Westandalusiens, stattfindet, ist kein Zufall: Einst verlief die Grenze zwischen christlichem und maurischem Gebiet ganz in der Nähe (daher der Beiname "de la Frontera"), und das prägt das Leben und die Kunst - und zwar so sehr, dass es einen eigenen Flamencostil aus Jerez gibt: die fröhliche Buleria de Jerez. Quasi der Haustanz dieser Stadt.

Während des Festivals hört man noch ein wenig öfter als sonst, dass Jerez (so wie Granada, Sevilla und Córdoba auch), die "wahre Wiege des Flamenco" sei. Da werden riesige Fotoplakate auf alten Gebäuden aufgezogen, es gibt Aufführungen ohne Ende und Sonderausstellungen im Centro Andaluz de Flamenco, dem größten und komplettesten Zentrum für Flamencokunst in Europa.

Im Flamenco-Schrein

Hier werden von jeher alte Gitarren gesammelt, auf denen sich einst die Stars ihre Finger wund spielten. Oder abgetragene Schuhe zur Schau gestellt, die getränkt sind vom Schweiß berühmter Tänzerinnen. In der Fonothek kann man auch außerhalb der Festivalzeit alte Gesänge mit ihren modernen Interpretationen vergleichen und in der Videothek die tänzerische Umsetzung bestaunen. Zu finden ist das Zentrum natürlich in Santiago, dem traditionellen Gitano-Viertel, im Palacio de Pemartín aus dem 18. Jahrhundert, dessen zentrales Element ein wunderschöner Patio ist.

Nach Santiago zieht es den Festivaltross nach der letzten Vorführung auch weit nach Mitternacht, in der Hoffnung in einer der Bars Teil einer spontanen Fiesta zu werden - und wenn nicht, kann man hier wenigstens bei einem guten Glas Sherry über die drei Aufführungen pro Abend diskutieren. Sherry wird hier immer und überall ausgeschenkt, ist er doch so etwas wie der Hauswein, getauft auf den alten arabischen Namen der Stadt Jerez, Sherish. Und diesem "Hauswein" sind in Jerez mehrere Kathedralen gewidmet, die so genannten Sherry-Kathedralen. Diese riesigen Hallen, in denen pechschwarze Fässer lagern, sind über die ganze Stadt verteilt. Mit ihnen wollten und wollen die Sherry-Barone ihren Status demonstrieren.

Kathedralenkonflikt

Die wohl schönste Sherry-Kathedrale der Stadt wurde vom Ingenieur Alexandre Gustave Eiffel für den Sherrybaron Manuel M. Gonzáles Ángel errichtet: eine kreisrunde Halle mit Sandboden und einem Loch im Holzdach, an deren Wand die pechschwarzen Fässer kunstvoll aufgestapelt sind. Das Areal liegt am Rande der Altstadt, gleich neben der eigentlichen, also katholischen Kathedrale, die niemals offen zu haben scheint, und gegenüber vom Alkazar, dem maurischen Palast aus dem 12. Jahrhundert.

Am besten lässt sich die riesige Anlage mit einer Elektro-Liliputbahn besichtigen. Das dauert etwa zwei Stunden und vermittelt den Eindruck, als wäre man in einem Vergnügungspark, aber bequem ist es allemal. Man kurvt vorbei an kleinen Demonstrations-weinbergen und kann bei einem kurzen Zwischenstopp die Hand in die weiße Kalkerde halten. Jene Erde, die so typisch ist für die Umgebung von Jerez und die dafür sorgt, dass die Palomino-Traube auch den heißen Sommer bis zur Ernte im September gut übersteht.

Während einem das System der Befüllung erklärt wird, bei dem es letztendlich darauf ankommt, dass Sherryweine unterschiedlichen Alters in immer gleichen Teilen verschnitten werden, torkeln betrunkene Mäuse über die Füße der Besucher - die Tradition des Hauses verlangt es, dass die Mäuse den süßen Wein zuallererst verkosten dürfen. Am Ende der Rundfahrt mit der Elektrobahn bekommen so- gar die Besucher noch ein Schlückchen in einer der Lagerhallen der Sherryfirma, in der die Tische schon gedeckt sind - allerdings nicht für die Verkostung, sondern für die Flamencotänzer.

Eine perfektere Verbindung der beiden Traditionen von Jerez kann man sich nur schwer vorstellen. Denn trotz der touristischen Anmutung ist die Darbietung sowohl von hoher Güte als auch bodenständig geblieben: Hauswein meets Haustanz. Eine Neuauflage dieser Kombination gibt es übrigens für etwa drei Wochen im September zu erleben, wenn die Ernte der Palomino-Traube gefeiert wird, be-vor Jerez wieder die ruhige, bodenständige Stadt wird. Ohne Allüren und ohne Hochglanz. (Julia Petschinka/Der Standard/Printausgabe/12./13.5.2007)