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Mit diesem Bild aus der tschetschenischen Hauptstadt Grosny gewann der französische Fotograf Eric Bouvet den Bayeux-Preis für Kriegskorrespondenten.

Foto: APA/epa/AFP/Eric Bouvet
Mit 18 Jahren kam Arkadi Babtschenko als russischer Soldat nach Tschetschenien. Später verarbeitete er seine Erinnerungen in einem autobiografischen Roman, der nun auch in Deutsch vorliegt. „Die Farbe des Krieges“ ist ein erschütternder Aufschrei gegen das Verschweigen des Grauens.

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Von einer Gesellschaft, die wenig vom Diskurs hält und ihn neulich erst wieder zurückgeschraubt hat, die Aufarbeitung ihrer Kriege und der daraus bezogenen Traumata zu erwarten, ist wenig realistisch. Eine solche Reflexion zu verlangen schmeichelt maximal der eigenen politischen Korrektheit. Viel Aussicht auf Erfolg winkt ihr nämlich nicht. Wie auch bei der Entwicklung der Demokratie kann auch der Anstoß zur Vergangenheitsbewältigung nur von den Bürgern selbst kommen.

Nehmen wir etwa die Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges. Weil er das Zentralereignis im russischen Nationalbewusstsein ist und als Hauptpfeiler die Struktur der nationalen Identität trägt, wird er bei Feiertagen mit den kollektiven Ritualen des Siegerkultes reproduziert. „Für den schwierigen Alltag der Kriegsgeneration aber wurde bislang keine Sprache gefunden. Das gründet in der Position, das Ganze allein an die Spezialisten zu delegieren, oder im tiefen Zynismus, der jede moralische Bewertung verhöhnt“, meint der Meinungsforscher Lew Gudkow, der sich als einer der wenigen mit Russlands Erinnerungsarbeit beschäftigt und schon in den 1970er-Jahren auf der Suche nach der nationalen Befindlichkeit durch das Land reiste: „Ich habe erlebt, dass eine Gruppe von Frauen bei der Erwähnung des Krieges hysterisch zu heulen begann. Die Erinnerung an den ungeheuerlichen Preis dieses Sieges nämlich, das Massenleiden mit 27 Millionen Toten, wurde in das Unterbewusstsein abgeschoben. Nie wurde reflektiert, warum der Preis so hoch war, warum man so kämpfte, was die Ursache und wer die Initiatoren des Krieges waren.“

Was auf den Zweiten Weltkrieg zutrifft, trifft auch auf die zwei postsowjetischen Tschetschenienkriege zu. Eine adäquate Sprache dafür wurde noch nicht gefunden, der Gegenwart ist nicht nach Thematisierung und Reflexion. Die wenigen Journalisten, die mutig aus der Kaukasusrepublik berichteten, lieferten immerhin eine Ahnung von dem, was unbeholfen die Hölle genannt wird. Anna Politkowskaja, die mit ihren Recherchen Kriegsverbrecher auch hinter Gitter brachte, hat ihr Engagement nicht überlebt.

"Kaum einer redet"

Am meisten fehlt jenen die Sprache, die als Soldaten selbst durch den Krieg gegangen sind. Dabei ist es nicht nur allein die Sprache, es bedarf auch ungeheurer Kraft, gegen die alles zermalmende Propagandamaschinerie – wohlgemerkt: beider Konfliktparteien – anzuformulieren. „Kaum einer redet. Sie alle sind noch nicht zur Ruhe gekommen“, erklären die Mitarbeiter des mit dem Schicksal Armeeangehöriger und ehemaliger Tschetscheniensoldaten beschäftigten „Komitees der Soldatenmütter“, wenn man sie um Mithilfe bei der Suche nach ehemaligen Frontkämpfern bittet.

Ein gewisser Andrej hatte vor einiger Zeit doch dem Gespräch zugestimmt. Als 19-Jähriger hatte sich der Russe in der Hoffnung auf Wehrdienstverkürzung nach Tschetschenien gemeldet, wurde dort um den Großteil des Solds geprellt, den dann Offiziere einstreiften. „Was machst du, wenn bei einer Säuberung ein kleiner Junge mit dem Maschinengewehr um sich schießt?“, sinniert Andrej über die fatalsten Momente im Krieg. „Würden Sie auf einen Jungen schießen? Aber wenn du nicht schießt, erschießt er dich. Das ist Krieg.“ Der Krieg im Kopf hört auch zu Hause nicht auf, mit den Traumata sind die jungen Veteranen allein.

Ein halbes Jahr hat Andrej gebraucht, bis er wieder auf einen Markt gehen konnte, auf dem Kaukasier arbeiten. Maximal fünf Minuten habe er es anfänglich ausgehalten. Andrej war nicht dabei, als Anfang August 2004 die Polizei in Moskau den Versuch einer Gruppe von 100 Personen verhinderte, auf einem Markt Jagd auf kaukasische Händler zu machen. Von den 40 Personen, die festgenommen wurden, waren die Mehrzahl ehemalige Fallschirmjäger. Aber Andrej hält unverblümt fest: „Wir wurden zum Töten trainiert.“ Kriegsveteranen sind in der rauen russischen Wirklichkeit eine gefragte Spezies. Aus der Militärdatenbank werden sie von Wachdiensten, staatlichen Geheimstrukturen oder der Mafia rekrutiert. Andrej lehnte die heiklen „Jobs“ ab und wollte wieder ein normales Leben.

Die Nachkriegsdepression war stärker, und er ging der absurden Logik seiner Seele folgend zurück in den Krieg. Einen anderen Weg ging Arkadi Babtschenko. Im ersten Tschetschenienkrieg Mitte der 1990er-Jahre als 18-jähriger Soldat in die Kaukasusrepublik geschickt, entschließt er sich später zum Journalistenberuf und dazu, das Grauen des Krieges auch literarisch zu verarbeiten. Mit seinem kürzlich bei Rowohlt erschienenen autobiografischen Erstling Die Farbe des Krieges füllt er nicht nur eine Lücke in der kargen Tschetschenienliteratur, er reiht sich vielmehr als Pionier der „Tschetschenica“ vor die „Meta-Tschetschenica“. Babtschenko weiß um die Beschränktheit verbaler Erlebnisübertragung: „Einem Menschen, der nie im Krieg gewesen ist, kann man den Krieg nicht erzählen, weil er ihn nicht begreifen kann“, schreibt er, der „als hundertjähriger Greis, krank, mit leerem Blick und ausgebrannter Seele“ aus dem Kaukasus zurückgekommen ist.

Die Ahnung aber verschafft der Autor, der 2001 für seinen Zyklus „Zehn Bilder vom Krieg“ mit dem Preis der russischen Literaturzeitschrift Debüt ausgezeichnet worden ist, dem Leser in einer der Kriegserfahrung entsprechenden Abgebrühtheit. Gleich zu Beginn wird dem Leser der Keller eines tschetschenischen Einfamilienhauses vorgeführt, wo der Soldat Jakowljew gefunden worden ist: „Die Tschechos hatten ihn geöffnet wie eine Konservendose, die Eingeweide herausgeholt und ihn, noch lebendig, mit seinen eigenen Därmen erdrosselt. Auf der sauber geweißten Wand, an der er lag, hatte man mit seinem Blut ,Allahu Akbar‘ geschrieben.“ Der Soldat scheint sich an alles zu gewöhnen – was einst furchtbar schien, wird läppisch. Etwa hat es einem „die Seite aufgepflügt, dem anderen ein Bein bis zur Hüfte abgerissen (…) Nur einmal öffnet der Beinlose die Augen und sagt leise: ,Nehmt mein Bein mit.‘ Sigaj nimmt sein Bein, trägt es neben den Bahren her. So tragen sie ihn zu fünft, in Teilen – vier den Rumpf, Sigaj das Bein.“

Babtschenko, dessen Übersetzer Olaf Kühl im Nachwort den jahrhundertealten russisch-tschetschenischen Konflikts darlegt, konterkariert die Abgebrühtheit mit Erinnerungen an die allgegenwärtige Angst: „In den Schläfen ein Hämmern, schreckliche Angst.“ Und an anderer Stelle: „Stumpf gucke ich in die verloschene Glut (der Zigarette), meine Hände zittern.“ Der Hass ist gelegentlich stärker als die Furcht: „Die Hände sprangen auf und bluteten ständig, verwandelten sich durch die Kälte in ein einziges großes Ekzem (…) Seit einer Woche hatten wir uns nicht am Lagerfeuer gewärmt (…) Wir wurden zu Tieren (…) Nur der Hass blieb, und wir hassten alle auf der Welt, uns selbst eingeschlossen. Streit entbrannte so leicht wie ein Streichholz und steigerte sich augenblicklich zur wütenden Schlägerei.“

Menschenleben ist im Riesenreich kein knappes Gut. Wie man Rohstoffe verschwendet, geht man auch mit Menschen um. Wie die unzähligen Zivilisten und vor allem junge Tschetschenen so verreckten auch tausende russische Soldaten in Tschetschenien. Der Mensch zählt weniger als ein Maschinengewehr, berichtet der Autor: Haut jemand ab, wird nach ihm gesucht, weil die Waffe fehlt.

An die Stelle des Menschen, der in der Bestialität der Säuberungsaktionen jeglichen Wert verliert, treten Tiere und Dinge als emotionale Bezüge. Hinter dem Kollektiv, hinter dem sich das gewalttätige „Ich“ wie auch Babtschenkos Erzähler versteckt, wird das Tier zum Individuum, das man in Gestalt einer abgemagerten Kuh aus Mitleid erschießt und sich dann damit tröstet, dass es „ja nur eine Kuh“ ist. „Mensch, Hund, Baum, Stein, Fluss“ – im Krieg scheinen alle verständig und beseelt: „Du gräbst mit dem Pionierspaten im steinigen Lehmboden und unterhältst dich mit ihm wie mit einem nahen Menschen: ,Na, mach schon, Liebster, noch ein Stich, ein ganz bisschen noch …‘ Und er hört auf dich.“

Selbst mit dem Krieg ist er zu einem Ganzen verwachsen und wird es zeitlebens bleiben: „Ich sehe die Welt mit deinen Augen, messe die Menschen an deinen Maßstäben. Für mich ist immer Krieg.“ Von wem er ausgegangen ist, ist Babtschenko egal. Er fragt die Volksvertreter beider Konfliktparteien: „Wer ist dieses Gesindel, das auf unserem Blut Karriere macht?“

Babtschenko gibt nicht nur dem durch die Propaganda weichgespülten Konflikt den verbalen Schrecken zurück, er widersteht auch der Versuchung, den Gegner, den er in der Sprache des Krieges „Tschecho“ nennt, mit Totaldämonisierung zu belegen. Ebendies hat die staatliche Propaganda im zweiten Tschetschenienkrieg verfolgt und – wie der russische Philosoph Michail Ryklin analysiert – den Tschetschenen zum „total Anderen“ und zum Erzfeind stilisiert. Überhaupt sei der Konflikt entlokalisiert und globalisiert zum Kampf zwischen Gut und Böse erhoben worden. Wie der Tschetschene in Russland der Gottseibeiuns ist, ist er im Westen zum fraglos guten Kämpfer für eine quasi saubere Sache gemacht worden. Ryklin empfiehlt dringend Differenzierung.

Die Farbe des Krieges leistet unter anderem den Beitrag, vom Werfen mit entleerten Begriffen weg zu einer bunteren Sprache über einen der grausamsten Konflikte im neuen Jahrtausend zu kommen. Ähnlich wie bei Wolfgang Borchert endet Babtschenkos Sprachtherapie im kraftvollen Aufbäumen missbrauchter Jugend: „Sei verflucht, Scheißkrieg.“ (Eduard Steiner/DER STANDARD, ALBUM, 12./13.5.2007)