Witzmann: Das Körperbewusstsein ist gestiegen und damit auch das Bewusstsein, dass es gegen Schmerz eine Therapie geben sollte. Früher haben Menschen Schmerzen als etwas Schicksalhaftes hingenommen.
Diese Einstellung wurde von den Medizinern auch lange unterstützt. Durch die demografische Entwicklung hat die Zahl der Schmerzpatienten zugenommen. Die Menschen werden immer älter, sie wissen, dass auch verschleißbedingte Schmerzen behandelbar sind.
Feuerstein: Es gibt immer mehr Menschen mit diffusen Schmerzbildern wie Fibromyalgie. Das sind Schmerzen, die sich nicht nach dem alten mechanistischen Bild festmachen lassen. Da ist kein kaputtes Knie, da war kein Bruch, kein Unfall. Ich sehe hier einen Zusammenhang mit unseren veränderten Lebensbedingungen, mit unserer unbewegten Lebensweise.
Der Körper wird nicht ausreichend bewegt, der innere Swing geht verloren. Schmerz ist ja auch ein Warnsignal, ein Schrei des Gewebes nach fließender Energie. Mit Energie meine ich die Summe der sehr komplex ablaufenden Stoffwechselprozesse.
STANDARD: Warum ist eine Diagnose bei Schmerzpatienten so schwierig?
Witzmann: Momentan gibt es noch zu wenig Spezialisten und Schmerzzentren. Vielleicht halten auch Allgemeinmediziner zu lange an einem Patienten fest, bevor sie ihn zu einem Spezialisten schicken.
Feuerstein: Es wird zu lokal gedacht. Ich nenne ein Beispiel: Eine Patientin wird jahrelang erfolglos medikamentös gegen Schmerzen am Fußknöchel behandelt. Dann stellt sich heraus, dass die Ursache in einer Fehlstellung der oberen Rippen liegt. Wenn man dann wieder eine Kommunikation in dieser Bewegungskette herstellt, die Achse wieder in Balance bringt, ist der Frau geholfen.
Wir wissen nicht über die Strukturen unseres Körpers, dieses systemischen Wunderwerks, Bescheid. Der Fuß tut weh, also wird der Fuß behandelt. Wichtig wäre ein offener Blick für Funktionsketten.
STANDARD: Wie genau?
Witzmann: Das Achsenskelett mit Wirbelsäule und den daran hängenden Knochenstrukturen ist eine Funktionseinheit. Viele Patienten mit Rückenschmerzen haben eine Vorgeschichte mit Knie- oder Hüftproblemen. Dadurch kommt es zu einer asymmetrischen Belastung, einer Schonhaltung, das kann zur Asymmetrie der Wirbelsäule führen. Das weiß natürlich die Traditionelle Chinesischen Medizin oder die Osteopathie.
Feuerstein: Oft führt eine unbehandelte Unfallverletzung erst nach Jahren zu Problemen. Den Körper als systemische Organisation zu betrachten, dieses Denken beginnt erst langsam. Menschen mit nicht zuordenbaren Schmerzen stoßen deshalb an Grenzen. Ich sehe einem Paradigmenwechsel: Weg vom mechanistischen Bild hin zu einer Beschreibung von Kommunikationsprozessen von Zellen.
Witzmann: In der Schulmedizin hat sich dieses Denken noch nicht ganz durchgesetzt. Es ist aber zu beobachten, dass immer mehr praktische Ärzte Zusatzausbildungen machen, etwa Akupunktur oder manuelle Medizin. Bei den Krankenhausärzten ist die Situation anders, die haben ja naturgemäß Patienten vor sich, die von anderen Ärzten geschickt wurden, weil keine Behandlung genutzt hat, da denkt man dann an Operation.
STANDARD: Sie sind Neurochirurg, kann die Chirurgie Schmerzpatienten helfen?
Witzmann: Die Chirurgie hat ihren Stellenwert, aber sie ist nur ein Baustein in der Behandlung. Ich habe mich in den letzten Jahren vor allem mit Wirbelsäulenschmerzen beschäftigt. Man muss genau wissen, wann man die Operation als Methode einsetzt. Ein seriöser Behandler entschließt sich erst dann zur Operation, wenn konservative Methoden nicht ansprechen.
STANDARD: Können sanfte Therapieformen heilen?
Feuerstein: Schmerz verändert die Stoffwechselprozesse. Sanfte Methoden können hier eingreifen, können Entgiftungs- und Regenerationsprozesse anregen. Dauerschmerz etwa lässt den Stresspegel ansteigen. Diese Situation macht Patienten mürbe. Verschiedene Möglichkeiten der Hautberührung können den Stresspegel senken.
Ein Mensch, der seit Jahren Schmerzen erlebt, steht mit dem Rücken zur Wand, seine Reizschwelle ist sehr niedrig. Es geht dann darum, Gegenreize zu schaffen, die Übererregbarkeit zu regulieren, damit der Körper merkt, er ist noch belastbar.
Witzmann: Ich behandle am Wirbelsäulenzentrum 40 Patienten pro Woche mit konservativen Methoden, operiert werden fünf. Die Kooperation mit der Physiotherapie ist dabei sehr wichtig. Beim chronischen Schmerz ist aber zu beachten: Jede Methode wirkt umso besser, je schneller man sie einsetzt. Ab einer Schmerzdauer von mehr als einem Jahr haben alle Therapieformen nur noch eine mäßige Aussicht auf Erfolg.
Weil sich der Schmerz als eigene Schmerzkrankheit manifestiert, sich von der Ursache verselbstständigt. Je länger Schmerz andauert, umso mehr spielen psychische Komponenten eine Rolle. Soziale Isolation ist eine Folge des Schmerzes, Arbeitslosigkeit, sozialer Abstieg. Bei chronifiziertem Schmerz kann man mit chirurgischen Methoden nichts mehr ausrichten.
Wenn eine Nervenstruktur lange Zeit gereizt wird, sinkt die Reizschwelle. Diese Nerven feuern schon auf minimale Reize. Da kann man dann mit minimalinvasiven Methoden helfen - etwa durch Behandlungen mit gepulstem Radiofrequenzstrom.
STANDARD: Wie sinnvoll ist medikamentöse Behandlung?
Witzmann: Jahrelanges Verabreichen von Schmerzmitteln etwa Antirheumatika macht keinen Sinn, denn es werden ja nur Symptome behandelt.
Feuerstein: Und doch haben Medikamente etwa bei Migräne, wenn damit ein Regelkreis unterbrochen werden kann, Berechtigung.
Witzmann: Ja, bei akutem, nicht aber bei chronischem Schmerz. Neu in der Schmerztherapie ist, dass man Opiate auch bei so genanntem benignen Schmerz geben kann, also bei Schmerz, der nicht aufgrund einer bösartigen Krankheit entsteht.
Natürlich wird man Opiate erst geben, wenn alle anderen Therapien ausgeschöpft sind - etwa nach erfolglosen Wirbelsäulen-Operationen, wenn Schmerz somatisch ist, das heißt, die psychischen Faktoren sollten nicht überwiegen. Morphiate sind gut verträglich, auch für alte Menschen. Das Suchtpotenzial ist gering. Eine andere Möglichkeit ist die Rückenmarkstimulation zur Unterdrückung der Schmerzen.
STANDARD: Für Rheumatiker ist aber die medikamentöse Behandlung üblich.
Witzmann: Der Begriff ist weit. Oft werden degenerative Wirbelsäulenerkrankungen als Rheuma diagnostiziert, auch funktionelle Wirbelsäulenerkrankungen bei jungen Menschen. Für nachgewiesenen Gelenksrheumatismus bleibt die medikamentöse Therapie ein wichtiger Pfeiler.
STANDARD: Warum werden so viele Krankheiten unter Rheuma subsumiert?
Witzmann: Weil man viel reinpacken kann, wenn man nicht willens ist zu differenzieren.
STANDARD: Wie sollen sich Schmerzpatienten im Therapiedschungel zurechtfinden?
Witzmann: Da gibt es eine Studie der European Spine Society, der Wirbelsäulen-Gesellschaft, die mich geärgert hat. Sie kommt zum Schluss, dass es nur eine einzige Behandlung gibt, die einen Effekt hat: Übungen. Das ärgert mich, weil es bei der Behandlung von Schmerzpatienten und speziell bei Schmerzen im Achsenskelett nicht nur eine Möglichkeit geben kann. Es bedarf einer komplexen, interdisziplinären Therapie.
Feuerstein: Ein Schmerzpatient, der von Hinz zu Kunz gelaufen ist, hat nicht mehr den Eindruck, dass er Gestalter seines Schicksals ist.
Witzmann: Das merkt man an Patienten, die mit der Einstellung "Da bin ich mit meinem Schmerz und jetzt befreie mich" kommen. Funktioniert es nicht, gehen sie zum nächsten. Dass alles möglich und machbar ist, wird über Gesundheitssendungen im Fernsehen vermittelt. Damit wird eine unrealistische Anspruchshaltung geschürt. Eine der Folgen: Die Klagefreudigkeit steigt. Mit Schmerztherapie kann man die Schmerzen oft erheblich lindern, eine absolute Schmerzfreiheit ist aber meist nicht erreichbar.
Feuerstein: Deshalb ist es für Patienten mit chronischen Schmerzen ganz besonders wichtig, wieder Eigenkompetenz zu bekommen. Da reichen Medikamente, Operationen und auch Übungen nicht. Oft wissen die Leute gar nicht mehr, woran sie merken könnten, dass es ihnen gut geht.