Zur Person
Branislav Nicolic ist Gründer des Vereins Gipsy-Info, der Gesellschaft zur Erhaltung und Förderung der Roma Kultur.

Gipsy-Radio stellte seinen Sendebetrieb aus finanziellen Gründen mit 1. April ein und überträgt nun vorübergehend das Programm von RomskiRadio "AsunenRomalen" Zrenjanin / Srbia / Europa.
Spendenkonto: Gipsy-Info, P.S.K. Kontonummer: 92 15 16 99 BLZ: 60.000

Fields of TRANSFER: Wie und warum ist Gipsy-Radio entstanden?

Nicolic: Im Jahr 2000 habe ich einige "Zigeunerlieder" als mp3 bekommen und war fasziniert, dass diese Lieder in diesem Format existieren und im Internet kursieren. Da dachte ich, es wäre doch interessant, wenn sie wirklich freigegeben werden, damit alle sie downloaden können. Ich habe als Computertechniker gearbeitet und hatte das Wissen, so etwas umzusetzen. Damals hab ich mich auch noch als Jugo betrachtet und habe deshalb die Domain yumusica.com registrieren lassen, wo ich die Lieder zur Verfügung gestellt habe. Nach einer Woche habe ich nachgeschaut, da waren ca. zehn Leute dort, ohne dass ich Werbung gemacht hätte. Ich habe mich gefragt: Warum haben diese Jugoslawen Interesse an Roma-Musik? Daraufhin habe ich eine Umfrage gemacht: Seid ihr Jugos, Österreicher, Deutsche, Franzosen oder seid ihr Roma? Und siehe da: über 80% waren Roma!

"Ein relativ freies Land"

In dieser Zeit ist mein Vater gestorben und beim Begräbnis habe ich viele Roma kennen gelernt. Da ist mir etwas aufgefallen, was mich früher nie interessiert hat: Die meisten waren auf der Suche nach ihrer Identität, waren irgendwie verloren und haben dasselbe Problem, dass sie sich schwer in die Mehrheitsgesellschaft integrieren. Das habe ich persönlich nicht gekannt. Das naheliegendste für mich war dann, etwas im Internet zu machen. Mir selbst geht es nicht schlecht, meine Familie ist gut versorgt, ich lebe in einem relativ freien Land, in dem man relativ frei seine Meinung äußern kann, aber ich habe auch gesehen, wie es Leuten in anderen Ländern geht. Also habe ich beschlossen, auf der Stelle mit der Lohnarbeit aufzuhören, und begonnen, gemeinsam mit meinem Sohn Petar und meinem Freund Wolfgang das Projekt "Gipsy Info" zu kreieren.

Wir wollten nun mehr als nur Musik zur Verfügung stellen – wir wollten Programm machen. Wir haben einen Server aufgestellt und Streaming-Programme getestet – und ca. zwei Jahre gebraucht, um dann Live-Radio machen zu können. Am Anfang hatten wir drei oder vier Zuhörer und waren begeistert und haben gesagt: Jetzt ist noch einer da! Dann hatten wir zehn Zuhörer und die Leitung war überlastet... Also haben wir eine stärkere Leitung gemietet – und irgendwann waren es 100 Zuhörer am Tag, die uns auch Mails geschrieben haben. Da haben wir bemerkt, dass sie nicht alle aus Österreich oder Jugoslawien waren, sondern aus Kanada, Australien, Dänemark usw.

Jungfrau laut Leintuch

Im September 2002 sind wir zum ersten Mal mit Bild und Ton auf Sendung gegangen. Wir haben bei dieser Erstsendung gleich eine wichtige Diskussion angezettelt, nämlich "Was sollten wir von unseren Traditionen bewahren, was sollten wir davon nicht mehr nutzen?" Wir haben einige Fragen vorgegeben, z.B. soll man nach der Hochzeitsnacht weiterhin das Leintuch der Schwiegertochter zeigen zum Beweis der Jungfräulichkeit? Oder Bezahlung fordern für die Heirat der Tochter? Diese Diskussion war auf Romanes und läuft im Chat bis heute! Das große Interesse daran hat uns nachdenklich gemacht, was den Zugang betrifft: Wie können alle, die mitreden wollen, das auch tun?

Fields of TRANSFER: Ist Romanes die gemeinsame Sprache aller, die Ihnen zuhören?

Nicolic: Wir senden auf Romanes, Serbisch, Deutsch usw. – wir stellen uns darauf ein, wer gerade zuhört. Romanes ist eine sehr alte Sprache, die aus dem Sanskrit kommt – die Sprache der Götter in Indien! Aber die Sprache hat sich durch die Jahrhunderte verändert, abhängig von den Regionen, in denen Roma leben. Auf der anderen Seite ist Romanes eine Sprache, die teilweise in Vergessenheit geraten ist, und es gibt vor allem sehr viele Roma-Jugendliche, die die Sprache nicht mehr sprechen. Romanes zu "vergessen" war aber in bestimmten Gebieten auch eine Schutzmaßnahme gegenüber der Mehrheitsgesellschaft, um zu überleben. Viele dieser Jugendlichen wollen heute die Sprache wieder lernen, bei uns im Chat gibt es seit Anfang Februar – von uns unabhängig! – eine Romanes-Stunde, in der sich die Zuhörer gegenseitig Romanes beibringen. Das ist super.

Fields of TRANSFER: Und im Chat unterhalten sich die Leute in allen möglichen Sprachen?

Nicolic: Ja. Da kommt einer rein und sagt z.B. "schtjuro monjeschtsche?" Und wenn ein anderer das schtjut, dann schtjut er, dann unterhalten sie sich. Und der nächste fragt, spricht hier jemand Deutsch? Und wenn jemand da ist, unterhalten sie sich und wenn nicht, dann eben nicht. Bei uns sind alle gleich. Auf der Website steht absichtlich "Jugoslawisch" und nicht Serbisch, Kroatisch usw. Wer damit nicht einverstanden ist, soll es halt bleiben lassen.

Fields of TRANSFER: Gibt es unter den Roma viele Staatenlose?

Nicolic: Das Problem haben ja nicht nur die Roma, dass die Behörden sagen, du hast keine Papiere, was bist du denn? Staatenlos – dann vergiss es. Wenn man sich zu einem Staat zugehörig fühlt, muss man einen Antrag stellen, denn niemand kommt und sagt: Du bekommst jetzt die österreichische Staatsbürgerschaft. Ich habe übrigens keine österreichische Staatsbürgerschaft. Ich habe gehört, sie wird verliehen und ich will nichts Geliehenes: Wann muss ich sie zurückgeben? Ich würde sie ja nehmen, wenn ich dafür wenigstens nichts bezahlen müsste. Woher soll ich das Geld nehmen?

"Dann bin ich ein Erdling"

Ich brauche eigentlich nur einen Ausweis, der besagt, wer ich bin, und ich bin ein Bürger dieser Erde. Denn ein Alien bin ich nicht. Es ist schade, dass die Menschen immer diese Unterschiede machen müssen und sich nicht als Einheit betrachten. Deshalb hoffe ich, dass irgendwann Außerirdische kommen, damit die Menschen zusammenfinden, denn dann haben wir ein gemeinsames Feindbild – die Menschen sind ja so blöd, die brauchen immer ein Feindbild. Stellt euch das einmal vor: Wenn wirklich Außerirdische kommen würden, dann wäre das kein Thema mehr, dann bin ich kein "Zigeuner" mehr, dann bin ich ein Erdling, dann gehöre ich dazu!

Fields of TRANSFER: Das Internet als Raum, der an sich keine nationalen Grenzen kennt, scheint uns ein sehr passender Ort für die Roma ist, die eigentlich auch keine Grenzen kennen ... Wie sehen Sie das?

Nicolic: Ja, wir nennen uns ja die Cybernomaden. Wir sind früher von Ort zu Ort gewandert und jetzt surfen wir eben. Dabei könnten wir noch einiges mehr über's Internet machen, denn wir würden sehr gerne viel mehr Leuten Internet und Computer zur Verfügung stellen, um dann von ihnen Informationen und Nachrichten aus erster Hand zu bekommen und zu veröffentlichen. Die Grenzenlosigkeit ist eine Sache, der Zugang eine andere.

Fields of TRANSFER: Und wie haben Sie dieses Problem gelöst, dass nicht alle Zugang haben?

Nicolic: Wir haben Mails bekommen von Menschen, die erzählen, dass Leute aus einem anderen Dorf bei ihnen waren, Gipsy-Radio gehört haben und das auch gern selber hören würden, aber ein Computer ist für sie unerschwinglich. Wir hier bekommen Computer oft sogar gratis und richten sie selbst her, installieren die Programme, stecken den Computer in ein Paket und versenden ihn. Ja, was sollen wir auch sonst tun? Oder es ruft uns ein Rom aus Kroatien an und sagt, ich kann zwar in den Chat und das ist sehr lustig, aber ich höre das Radio nicht. Da hab ich ihm per E-Mail ein kleines Programm geschickt, damit ich auf seinen Computer zugreifen kann und habe dann von hier aus bei ihm alles so eingestellt, dass er nun das Radio hören kann. Und der war natürlich begeistert!

Das Internet ist eine feine Sache, aber es sollte nicht so werden wie überall, nämlich dass nur die dabei sein können, die auch dafür bezahlen können. Es ist auch nicht die ursprüngliche Idee vom Internet, dass es kommerziell genutzt wird. Vielleicht sollten wir Sponsoren suchen – aber um etwas zu suchen, muss man es erst verlieren, und wir haben nie welche gehabt. Besser wäre ansprechen: Also hiermit spreche ich sämtliche Sponsoren an – sponsert uns!

Fields of TRANSFER: Am Anfang haben Sie das Projekt selbst finanziert – wie sieht es mit Subventionen aus?

Nicolic: Wir haben uns zunächst einmal entschlossen, uns als Verein zu registrieren, was für uns als Analphabeten und Menschen, die mit all dieser Bürokratie wenig anfangen können, nicht so leicht war. Aber dadurch hat die Mehrheitsgesellschaft bemerkt, dass es uns gibt.

Ursprünglich haben wir uns aus meinen Ersparnissen finanziert, die mittlerweile aufgebraucht sind, und derzeit gibt uns meine Mutter ihre Pension. Wir wissen, dass es eigentlich auch Förderungen für unsere Arbeit gibt. Wir haben beim Bundeskanzleramt drei Jahre hintereinander angesucht und bekamen jedes Mal die Antwort, der Beirat habe uns nicht empfohlen. In diesem Beirat sitzen einige Vertreter von Roma-Organisationen, die selber gefördert werden möchten und die von dieser Torte kein Stück mehr abgeben wollen. Da haben wir aufgehört einzureichen.

"Wenn die Zigeuner barfuß tanzen"

Wir wurden bisher zweimal von der MA7 gefördert, einmal bei unserer Veranstaltung zum Jahrzehnt der Roma. Da haben wir gesagt, es wird Musik geben, und sie haben gesagt: Ah, Musik! Na, wenn die Zigeuner barfuß tanzen und spielen für uns, dann fördern wir das! Die Stellen, die an uns Förderungen vergeben, tun das nur, wenn wir Klischees verbreiten. Informations-, Kommunikations- oder Vernetzungsarbeit oder Bildungsarbeit wird nicht gefördert bzw. wissen wir nicht, wo wir ansuchen könnten. Wir aber haben Erfahrung in Vernetzung – uns hören Leute in 86 Ländern der Welt zu! Und doch müssen wir alles ehrenamtlich machen. Wir tun es gern, wir haben uns dieser Sache gewidmet, aber es bedeutet auch, dass wir in unserer Freizeit, auch am Wochenende, nichts anderes machen.

Fields of TRANSFER: Gibt es Spenden aus der Community?

Nicolic: Na ja, es gibt sehr viele Roma, die wohlhabend sind, aber die kenne ich leider nicht. Und unsere Zuhörer selbst – ich habe versucht, sie darauf anzusprechen, aber bis jetzt ist da kein Geld gekommen. Unser Ziel ist es ja, all das unentgeltlich zur Verfügung zu stellen und zwar denen, die den Zugang zu den Informationen und Diskussionen brauchen. Das sind aber auch diejenigen, die nicht genug Geld haben. Es gibt ein Grundbedürfnis und ein Recht auf Nachrichten und Informationen – das haben die Roma nicht und niemand kümmert sich darum.

2005 wurde von der Weltbank, der Soros-Foundation und der EU das Jahrzehnt der Roma ausgerufen. Seither sind zwar sehr viele Roma-Vereine gegründet worden, aber nicht von Roma selbst, sondern von Gadje, also Nicht-Roma. Und jeder von denen hat sich einen "Zigeuner" genommen, der weder schreiben noch lesen kann oder der Geld oder Papiere braucht und hat gesagt, "So, das ist unser Zigeuner", aber alles andere wird von den Gadje geleitet und dafür gibt's Förderungen von der EU, vom Bund, den Ländern. Denn diese Leute wissen, wie das geht. Dafür gäbe es noch viele Beispiele. Da entstehen dann schöne Sachen zum Vorzeigen, aber keine nachhaltigen Veränderungen. Und ich sage dann auch unseren Leuten: Wenn ihr es besser wisst, dann macht es auch selber. Und da geht schon einiges weiter.

Ich selbst bin Analphabet und müsste ich mich jetzt hinsetzen – als vierfacher Großvater mit weißem Bart – und lernen, wie man Projekte schreibt. Wobei ich eines schon weiß: In Projektanträge schreibt man das hinein, was die hören wollen. Und das kann ich nicht... Da verzichte ich lieber auf das Geld und schlafe dafür wie ein Baby, ohne dass in der Nacht die europäischen Geister kommen und sagen: Ich hab dir Geld gegeben!

Fields of TRANSFER: Gipsy-Radio besteht aus den unterschiedlichsten Teilen: Politik, Information, Diskussion, aber auch Hochzeiten und andere Feste. Ist diese Mischung entstanden, weil die ZuhörerInnen das so wollen?

Nicolic: Ja, praktisch alles, was Gipsy-Radio und Gipsy-TV macht, sind Wünsche und Bedürfnisse der Zuhörer und Seher. Das ist nicht unser Radio, sondern "unser" Radio global gesehen.

Die Zuhörer haben uns immer öfter Musik- und Programmwünsche geschickt und uns Fragen gestellt, wie z.B. "Kennt jemand den und den Menschen aus diesem und jenem Ort und weiß, wo der jetzt lebt?" D.h. die Roma-Community hat begonnen, über uns Verwandte zu suchen – wobei wir in sehr vielen Fällen helfen konnten. Das betraf vor allem Flüchtlinge aus Jugoslawien, die sich im Krieg und auf der Flucht verloren hatten. Diese Arbeit war wirklich wunderbar. Und sie hat dazu geführt, dass wir begonnen haben, Live-Telefonate von Zuhörern zu ermöglichen, damit sich die Familienmitglieder grüßen und einander hören können. Was wir aber gerne hätten, wäre mehr Austausch mit anderen Medien, damit wir Informationen bekommen, die wir an unsere Zuhörer weiterleiten können. Denn hier gibt es einen großen Bedarf an allen Themen, die Roma betreffen: Politik, Kunst, Wirtschaft, Gesetzesänderungen usw. Dafür reichen unsere Kapazitäten nicht aus.

Greta Garbo

Schon unser altes Büro hat auch als Treffpunkt gedient – auf wenigen Quadratmetern sind oft 30, 35 Leute von 5 Uhr abends bis am nächsten Tag um 10 Uhr vormittags gesessen und haben heiß diskutiert. Wir konnten in den neuen Räumen auch Veranstaltungen machen, über Schulbildung aufklären. Wir haben für die Kinder auch prominente Roma vorgestellt als positive Identifikationsmöglichkeiten, wie etwa Yul Brynner oder Greta Garbo.

Fields of TRANSFER: Das klingt so, als hätten diese Diskussionen bei Ihnen viel verändert?

Nicolic: Ja, denn wir greifen Themen auf, die in der Community kontrovers diskutiert werden, aber auch Themen, die uns stören. Z.B. haben wir voriges Jahr im Porgy & Bess eine Roma-Woche mit verschiedenen Musikern gemacht und dazu ein Rahmenprogramm gestaltet. Wir haben ein Spitalsbett und das Zubehör für Bluttransfusionen mitgebracht und gesagt: "Es heißt, die Zigeuner haben die Musik im Blut. Wenn also die Zigeuner Musik im Blut haben, dann spenden wir Zigeuner euch Nicht-Zigeunern Blut, und dann geht ihr auf die Bühne und singt! Denn bedeutet es, wenn die Zigeuner Musik im Blut haben, dass sie nicht mühsam lernen und üben müssen, sondern dass es ihnen einfach so in den Schoß fällt? Brauchen sie deshalb also keine Anerkennung für ihre Leistungen? Wenn das so ist, bitte, dann kommt her, da habt ihr unser Blut ..." Wir haben das dann auch wirklich gemacht, natürlich mit rotem Saft, aber im Ärztekittel. Und heuer wollen wir wahrsagen... also mit den Klischees spielen und sie abbauen. (Interview: Sylvia Köchl und Radostina Patulova, Fields of TRANSFER, 27.4.2007)