Die bosnische Künstlerin Šejla Kameric montierte das Graffito eines UN-Soldaten auf ihr Selbstporträt und ließ das Kunstwerk plakatieren. Agnes Neumayr analysiert aus politikwissenschaftlicher Perspektive die emanzipativen Folgen dieser Aktion.
Illustration: Šejla Kameric / Sammlung Erste Bank

Gesellschaftliche Veränderungen brauchen nicht nur den Verstand, sondern auch entsprechende Emotionen. Die wiederum kann Kunst in besonderem Maße liefern – zumal solche von politisch engagierten Künstlerinnen. Agnes Neumayr von der Universität Innsbruck analysiert deren Arbeiten im Rahmen einer "politischen Theorie der Kunst".

 

 

 

Politik ist niemals frei von Emotionen. Jede Revolution braucht die großen Gefühle. Alle "-ismen" – vom Fundamentalismus über den Nationalismus bis zum Rassismus und Sexismus – instrumentalisieren sie ebenso wie das rationale Denken. Dennoch ist der politisch-öffentliche Raum im Gegensatz zum privaten im allgemeinen Bewusstsein nach wie vor als Ort der Ratio verankert. Ein hartnäckiges Denkmuster, das mit den klassischen Instrumenten der Vernunft wie Sprache bzw. dem wissenschaftlichen Diskurs allein nur oberflächlich aufzubrechen ist.

Wie aber sonst? "Am besten scheinen sich dafür die Künste zu eignen, weil in diesem Bereich kognitive und emotionale Fähigkeiten dynamisch zusammenwirken", ist die Politikwissenschafterin Agnes Neumayr überzeugt. "Wenn man sich von Kunstwerken beeindrucken lässt, sprechen sie immer unseren Verstand und unsere Gefühle an." Ausgehend von der zentralen These der US-amerikanischen Kunsttheoretikerin Susanne Langer, die den Gefühlen in der Konstruktion von Erkenntnis denselben Stellenwert zuspricht wie der Kognition, befasst sich Neumayr in ihrem vom Wissenschaftsfonds geförderten Forschungsprojekt mit den Möglichkeiten von Kunst als politischem Medium – und zwar aus einer genderspezifischen Perspektive.

Positive Impulse

"Bislang hat man in der Politikwissenschaft vor allem die negative Rolle der Künste im politischen Kontext analysiert: ihre Instrumentalisierung im Nationalsozialismus oder im realen Sozialismus", so Neumayr. "Dass Kunst aber auch sehr positive, demokratieförderliche Impulse liefert, wird in unserer Disziplin kaum thematisiert." Als eindrucksvolle Beispiele für ihre Überlegungen führt Neumayr eine Reihe internationaler Künstlerinnen an, die sich in ihren Arbeiten mit direkter, struktureller oder kultureller Gewalt gegen Frauen auseinandersetzen.

Gestörte Harmonie

So konterkariert etwa die Iranerin Parastou Forouhar den Fundamentalismus in ihrem Herkunftsland, indem sie eine 35 Meter lange Wand mit Szenen von Folter an Frauen bemalte. Durch die fortlaufende Wiederholung dieser Szenen erinnert das überdimensionale Wandbild an die traditionelle islamische Ornamentkunst, deren schöne, eine totale Harmonie widerspiegelnde Oberfläche durch die brutalen Inhalte ad absurdum geführt wird.

"Mit ihrer Arbeit", so Neumayr, "verweist Parastou Forouhar auf die Gewaltstruktur, die sich hinter dieser totalitären Ordnung verbirgt. Die Gewalt des Fundamentalismus hat das Leben der Künstlerin bis zu ihrer Emigration nach Deutschland geprägt: 1981 musste sie als Sanitätshelferin in den Irakkrieg, ihre im Untergrund für die Demokratie kämpfenden Eltern wurden von der Geheimpolizei ermordet. Ihre Werke machen diese im fundamentalistischen System wirksamen Herrschafts- und Gewaltmuster – die bis ins Innerste der privaten Räume, der Gedanken und Gefühle der Menschen wirken – sicht- und spürbar." Um die vielfältigen Formen von direkter Gewalt, Sexismus und Nationalismus geht es in den Arbeiten der jungen bosnischen Künstlerin Šejla Kameric. Auch sie arbeitet in ihrer Kunst eigene Traumatisierungen auf: das jahrelange Leben im belagerten Sarajewo, den gewaltsamen Tod des Vaters oder das Wissen um die Massenvergewaltigungen bosnischer Frauen. Ausgangsmaterial einer ihrer bekanntesten Arbeiten ist ein Text, den ein UNFOR-Soldat auf eine der Wohnbaracken der ausländischen Friedenstruppen geschrieben hatte: "Keine Zähne...? Ein Schnurrbart...? Riecht wie Scheiße...? Bosnisches Mädchen!" Šejla Kameric hat diese Botschaft fotografiert, ein Selbstporträt in den Bildhintergrund hineinmontiert und damit eine Posteraktion in Sarajewo durchgeführt. Aufschlussreich waren die Reaktionen der bosnischen Männer auf diese Aktion: Sie haben sich zwar mit den Frauen solidarisiert, da sie die Gewalt hinter dem Text erkannten. Wie in vielen Gesprächen und Diskussionen deutlich wurde, taten sie dies jedoch vor allem deshalb, weil sie die Frauen quasi als ihren persönlichen Besitz betrachten, den ein fremder Mann angegriffen und damit auch ihre männliche Ehre und die des ganzen Volkes verletzt hatte. Von "außen" dürfen die Frauen nicht beleidigt werden, sehr wohl aber von den eigenen Männern.

Doppelte Gewalt

Durch die Plakataktion wurde schließlich ein Reflexionsprozess in Bewegung gesetzt, der die doppelte sexistische Gewalt an den bosnischen Frauen auch für viele in den herrschenden patriarchalischen Denkstrukturen verhaftete Männer offensichtlich machte. "Damit hat die Künstlerin nicht nur die Ideologie dahinter aufgedeckt, sondern auch die emotionale Ebene der Betrachter angesprochen", so Neumayr. "Die Beleidigung wird als Gewalt, als massive Verletzung der Frauen nachvollziehbar."

Um rassistische Gewalt in ihren vielfältigen Formen geht es in der Computerkunst der Australierin Jenny Fraser. In einer ihrer Arbeiten mit dem Titel "Faster Food" projizierte die Künstlerin auf Leuchtreklamebilder von Fast-Food-Ketten ein hüpfendes Känguru. "Damit spielt Fraser auf die kulturelle Kolonialisierung der australischen Ureinwohner an", erläutert Agnes Neumayr. "Vor der Zerstörung ihrer traditionellen Lebensformen war das Känguru eines der wichtigsten Nahrungsmittel der Aborigines. Durch das Verbot der Kängurujagd wurden sie dieser Essgewohnheiten beraubt, und viele erkrankten an der ungewohnten Kost." Mit dieser Arbeit kritisiert Fraser aber nicht nur die Verletzung der Selbstbestimmungsrechte einer Minderheit, der sie selbst angehört, sondern auch den aufgezwungenen amerikanischen Essstil: schnell und ohne Qualität, aber höchst gewinnbringend.

All diese Beispiele künstlerischen Schaffens machen deutlich, dass eine politische Theorie der Künste überfällig ist, um ihre Bedeutung für Friedens- und Konfliktforschung, für Entwicklungspolitik oder Gender Studies entsprechend reflektieren und nutzen zu können. Mit ihrer Arbeit hat Agnes Neumayr einen ersten Schritt in diese Richtung gesetzt. (Doris Griesser/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25.4. 2007)