Der Sohn ist tot. Und doch gibt es in Simon Stephens Drei-Generationen-Drama die "Möglichkeit für Optimismus" (Therese Affolter und Alexander Strobele).

Foto: Gabriela Brandenstein

Ein leiser, aber beachtlicher Erfolg.

Wien – Zuerst heimlich rauchen und dann feste Pfefferminze schlucken. So macht es fast jeder in der Familie Holmes. Im Drei-Generationen-Haushalt im englischen Stockport (282.000 Einwohner, 11 Kilometer hinter Manchester) wohnt die kleine Lüge mit. Ganz normal, harmlos, Usus.

Bis ein Unfalltod allen die Decke wegzieht. So geschieht’s in Am Strand der weiten Welt. Der britische Dramatiker Simon Stephens betätigt sich in diesem vor zwei Jahren uraufgeführten und jetzt von Ramin Gray am Volkstheater zur österreichischen Erstaufführung gebrachten Stück nicht zum ersten Mal als Familienaufsteller. Mit den Generationenstudien Port und Reiher (bei den Wiener Festwochen sowie den Salzburger Festspielen 2004 zu sehen) hat der 35-Jährige bereits seine ungeheure Liebe zum Menschenschlag bewiesen. Stephens gehört zu den begabtesten (und erfolgreichsten) britischen Autoren der Gegenwart, ihm gelingen die präzisesten Blicke auf die Stellen zwischen den Menschen.

Alles bleibt gleich

Diese Stellen werden in Am Strand der weiten Welt in Kleinst- und Kleinschritten von Satz zu Satz ausgemessen. Die nebensächlichsten Worte ins Gesicht eines gegenüberstehenden Menschen gesprochen, hängen wie schwere Gewichte an den Lippen. Mann und Frau (Alexander Strobele und Therese Affolter) haben ihren Sohn verloren. Er war fünfzehn und recht aufgeweckt, fuhr gern zum Flughafen, um in den Himmel zu gucken. Jetzt ist nichts mehr so, wie es vorher war, und doch bleibt alles gleich.

Ramin Gray räumt, um das zu zeigen (ähnlich wie in seiner Motortown-Inszenierung), alles weg. Keine "Bühne", keine Welt, kein Strand. In einem auf einem Längspodest kaum mehr als eine Probebühne markierenden Setting aus zwei Küchenschränken und ein paar Stühlen hebt er die farblosen, nüchternen Dialoge dieses Stücks aus der Spielversenkung. Denn: "Gespielt", emotional ergründet wird hier passenderweise nicht. Das Volkstheaterensemble (so zeitgenössisch hat es schon lange nicht mehr ausgesehen!) gewährt dem Text in einer auf die Sekunde hin genauen Inszenierung nach Filmschnitttechnik (die einzelnen Szenen sind jeweils nur wenige Minuten lang) jene darstellerische Einöde, die er einverlangt. Trotz fremdsprachiger Regie ist genau das gelungen.

In scheinbar leichtgängiger Art (altkluge Jugend, Verschlagenheit der Großeltern) spürt das Stück die Bruchlinien dieser Durchschnittsfamilie auf: ungelebte Liebesbeziehungen, lieblose Väter, verborgene Sehnsüchte und unterlassene Ausbruchsversuche. Und trotz der Unfallkatastrophe, die auf der Bühne – selbst in Worten – praktisch ausgespart bleibt, und doch wie eine Entfremdungsrakete den Haushalt sprengt, steht die "Möglichkeit für Optimismus" (Stephens) im Raum.

Die enorme Erschütterung zwingt die Menschen zu neuen Perspektiven. Sie nehmen ihr Leben in die Hand, so wie sie es vielleicht noch nie getan haben: Alex (Raphael von Bargen), der ältere Sohn, kehrt mit seiner Freundin (Katharina Straßer) nach Stockport zurück. Die schlechte Ehe der Großeltern (Gerd Rigauer und Silivia Fenz) wird weiterhin schlecht bleiben, doch ihre Geheimhaltung ist nicht mehr wichtig. Und Alice (Affolter) und Peter Holmes (Strobele) werden jeden Tag an ihren Sohn denken, aber sie denken noch genauer jetzt an sich. (Margarete Affenzeller/DER STANDARD, Printausgabe, 24.4.2007)