Lesen – eine einsame, stille Tätigkeit. Wer liest, ist allein mit sich selbst – und der Welt, die ihm das Buch eröffnet.

Foto: Heribert Corn
Die erste und letzte Voraussetzung von allem, was den Namen "Bildung" tatsächlich verdient, ist Freiheit. Oder, was dasselbe bedeutet: Bildung ist als ein mehr oder minder leidenschaftlich empfundener Vorbehalt gegen den Zwang zu verstehen, alles und jedes, auch jede Lektüre und geistige Beschäftigung, in eine Übung zur Selbstbehauptung im praktischen Leben zu verwandeln. Darum ist diese zweite Staffel der SZ-Bibliothek so wenig wie die erste ein Kanon der Bücher, die man gelesen haben muss.

Bildung ist auch etwas anderes als die Chimäre von angeblichen Kulturmenschen, die gern Friedrich Hölderlin zitieren, als der Eifer, den die Gegner einer Reform der Rechtschreibung an den Tag legen, oder als die Qual der wöchentlichen Klavierstunde. Bildung ist vielmehr das Bewusstsein, dass es eine große Kluft gibt zwischen der Welt, so wie sie ist, und, dem, was man von dieser Welt will. Und es ist gleichzeitig ein scharfes Bewusstsein davon, immer zu wenig zu wissen, nicht genug kennengelernt zu haben, sich von zu wenigen Dingen eine Anschauung oder gar einen Begriff machen zu können - und die Anstrengung, das zu ändern. Auch diesem Zweck dient die SZ-Bibliothek.

Aber Bildung ist auch die Freude an dem Vielen, das man eben doch weiß. Die Literatur spielt darin eine entscheidende Rolle als ebenso liberaler wie symbolischer Ort, an dem die bürgerliche Gesellschaft sich selbst darstellt, über sich nachdenkt oder träumt, über sich selber zu Gericht sitzt.

Allein mit der Welt

Auch heute noch besitzt sie diese Aura der Universalität, der Zuständigkeit für das Ganze, während andere Genres auch der literarischen Künste, allen voran das Theater und die bildenden Kunst, längst in partikulare, "interessante" Milieus zerfallen sind - auch wenn diese Universalität bedeutet, dass Lesen eine einsame, stille Tätigkeit ist, die nur manchmal, in Ausnahmesituationen, ins gesellschaftliche Ereignis übergehen kann. Wer liest, ist allein mit sich selbst - und der Welt, die ihm das Buch eröffnet.

So gerät er, mit Orhan Pamuk, in die Türkei des 16. Jahrhunderts, in der Mord und Totschlag aus der Frage erwachsen, ob man für die Darstellung Allahs die Kunst der westlichen Malerei, die Kunst der Perspektive verwenden darf. Er geht, mit Virginia Woolfs Mrs. Dalloway einen Tag lang durch das London nach dem ersten Weltkrieg, in dem Big Ben verlässlich die Stunden schlägt, in die Biografien die Nervosität der Zeit, die Schocks der Schlachtfelder und die Erschütterung aller Gewissheiten eingewandert sind. Er sieht sich mit dem Turiner Carlo Levi, den der italienische Faschismus in den äußersten Süden verbannt hat, in ein fremdes, archaischen Gesetzen folgendes Italien versetzt, in ein inneres Ausland. Und doch gibt es, wenn er mit Kurt Tucholsky auf Schloss Gripsholm eine Sommerlieb erlebt, die Utopie schwerelosen Glücks.

Auch die zweite Staffel der SZ-Bibliothek ist eine internationale Bibliothek des 20. Jahrhunderts. Der Amerikaner Philip Roth steht darin neben dem Schweden Per Olov Enquist, die Französin Colette neben der Deutschen Ricarda Huch, der Este Jaan Kross neben der Österreicherin Ingeborg Bachmann.

Eine solche, im guten Sinne universale Bibliothek kann nicht nur angenehm sein. Es muss in ihr eine Unruhe, ein Bewusstsein von der Unbeständigkeit der Verhältnisse rumoren, deren erster Repräsentant eben die Literatur selber ist, durch ihr Vermögen, fremdes Leben als eigenes vorstellbar zu machen.

Im 19. Jahrhundert war das Bedrohliche, Ungemütliche an der Literatur durchaus Gemeingut. In diesem Sinne schrieb der Musiker und Lehrer Carl Friedrich Zelter an den alten Johann Wolfgang von Goethe, seinen Freund, das "Grauen" sei eine "Empfindung, die in der neuen Kultur viel zu selten" bedacht und beschrieben werde.

Ein paar Jahre später nahm Heinrich Heine den "Satz vom Ende der Kunst", mit dem Hegel die ästhetische Lebensform verabschiedet haben soll, persönlich und stellte sich eine durchaus unbehagliche Welt vor, in der es keine Literatur mehr gibt, weil es keine Literatur mehr geben kann - eben weil ihr Geschäft auf wirkungsmächtigere Instanzen der Geschichte übergegangen sein soll.

Das Ende der Kunst ist dann - glücklicherweise? - nicht eingetreten. Und doch fragt es sich, ob uns nicht etwas fehlt, wenn wir unter dem Umgang mit Dichtung nur etwas Müßiges und Angenehmes verstehen.

Die literarische Phantasie muss noch vor wenigen Jahrzehnten eine ganz andere Rolle gespielt haben, als sie das heute tut, da es technische Medien gibt, um jedes Ereignis aus noch so großer Entfernung sinnlich gegenwärtig werden zu lassen: Sie war, vor allen anderen Künsten, das Organ nicht nur der Individualität, sondern des Bewusstseins, welche Last diese Individualität sein kann, dass man aus ihrer Haut, aus der unendlichen Kette biografischer Zufälle, nicht mehr herauskommt, dass man sich selbst nicht zu entgehen vermag.

Mit anderen Augen

In Wolfgang Hildesheimers scheinbar historischem Roman Marbot ist das Bewusstsein dieser Zufälligkeit ebenso sehr zu spüren wie in Christoph Ransmayrs Schrecken des Eises und der Finsternis. Auch in diesem Sinne - als die Möglichkeit, die Welt mit den Augen eines anderen zu sehen - ist literarische Bildung eine Bildung zur Freiheit. Und das ist sie in einem ganz besonderen Maße, weit über das hinaus, was in anderen Medien erreicht werden kann.

Das gebildete Bewusstsein kann - und muss - ohne die sinnliche Gegenwart der Bilder und gar der bewegten Bilder auskommen. Denn womit sich das gebildete Bewusstsein auch beschäftigt: Es wird als Lektüre, und das heißt: in einer distanzierten, reflektierten Form und damit als Lebenssubstanz gleichsam verdünnt aufgenommen.

Diese Distanz - und das heißt auch: Das dazugehörige Denken in Übergängen, Graden, Stufen, möglichen Beziehungen und Abhängigkeiten - gehört zur Welt der humanistischen Bildung. Und das allmähliche Verschwinden dieser Distanz, sei es infolge des allgemeinen Reisens, sei es infolge der scheinbar sinnlichen Präsenz von fremden Leben in den audiovisuellen Medien, ist folgenreicher als der Verlust von Kenntnissen, die einmal zur Bildung gehörten und es heute nicht mehr tun, das häusliche Klavierspiel oder das Vorlesen in geselliger Runde eingeschlossen.

Literatur ist immer eine Art von Erinnerung, auch wenn es das Erinnerte im eigenen Leben nur als etwas Peripheres, Flüchtiges, als Bestandteil einer fremden Existenz vor allem, gegeben hat. Sie stillt ein Verlangen nach einem anderen Jetzt, und zwar vor allem einem vergangenen - und nach einem anderen Ich, in dem man sich selbst erlebt. In der Lektüre erst öffnet sich - anders als etwas im Film, der stets dazu neigt, sich an die Stelle der eigenen Erfahrung zu setzen - eine vielschichtige Vergangenheit. Die Gegenwart des Lesers ist darin und seine Geschichte: die Gegenwart des Autors und dessen Geschichte, als imaginierter Schatten, und dann noch das Dritte, das Eigentliche, die Gegenwart des Literarischen selbst.

In der und durch die Literatur entsteht eine Art von innerer Gastfreundschaft.

Sie wird den Figuren und Gestalten gewährt, die man durch das Lesen kennenlernt, und auch diese Gastfreundschaft ist im emphatischen Sinne Literatur. Sie setzt ein etwas melancholisches Wesen voraus, eines, das sich an nichts beteiligt, doch alles weiß und vor allem: jederzeit zur Vergebung bereit ist.

Darüber hinaus gibt es die Literatur tatsächlich als ein eigenes Reich. Als ein über lange Zeit in sich "gleichbleibendes", wie Friedrich Nietzsche meinte, als beinahe unendliche Kette von in sich ruhenden Werken, in denen sich Menschen über sich selbst und ihre Welt Rechenschaft abgelegt haben - getrennt von sich und ihrer Welt, in erhabener Weise, von jedem einzelnen Reiz in gewisser Weise absehend, und jeden einzelnen doch in einer fast ursprünglichen Unruhe bewahrend.

Im romantischen Glauben an die ästhetische Einheit der Welt hat die Beschäftigung mit der Literatur im 19. Jahrhundert ihre größte soziale Wirkung entfaltet - als in Dichtung verkleidete Forderung nach der Wiedereinführung des Goldenen Zeitalters, als ein Sich-Anschmiegen an die Welt, als literarisch vorgetragener Anspruch auf eine Verbesserung der Welt. Selbstverständlich kann daraus nichts anderes hervorkommen als eine Enttäuschung.

50 "Einladungen" ...

Was aber entsteht in dieser Enttäuschung, die auf diesen Widerspruch folgt? Jene Bildung, die einen Stachel in sich trägt, ein historisches Bewusstsein, in dem schmerzhaft deutlich enthalten ist, dass man sich im Leben, so wie es ist, nicht einrichten kann.

Wo statt dessen "Sinndefizite" gefüllt werden sollen, wo explizit der Schulterschluss mit dem Leben gesucht wird und sich die Kunst dazu hergeben soll, eine brüchige Stelle in der allgemeinen Lebenspraxis mit ihrer Spachtelmasse auszufüllen, ist dieser Stachel verloren. In der Kunst allein bewahrt sich ein Bewusstsein vom Prekären, vom Unsicheren und stets halb Fiktiven. Dies ist, mehr als alles andere, in der Literatur zu Hause. Fünfzig Bücher enthält die neue Bibliothek der Süddeutschen Zeitung - fünfzig Einladungen, es nicht nur mit der Bildung, sondern auch mit sich selbst ernst zu nehmen. (Thomas Steinfeld / DER STANDARD, Printausgabe, 21./22.04.2007)