Lofotische Mitternachtssonne.

Foto: pixelquelle.de
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Die Lofoten Ende März. Der Winterfang ist eingebracht. Die Dorsche hängen ohne Kopf und Innereien auf den hölzernen Gerüsten - sofern sie nicht als frische Ware verkauft wurden und ihre Bestimmung der Stockfisch ist. Wenn ihre Bestimmung der Klippfisch ist, hängen sie, eingesalzen zur Dreiecksform, aufgespannt auf anderen Gerüsten. Ob Stock oder Klipp, die lofotische Gegend nördlich des Polarkreises hat mehr Fischtrocknungsgerüste als das Tirolische Kirchen und Marterln.

Da hängen sie nun und trocknen vor sich hin wie glitzernde Schindeln auf steilen Dächern einer längst vergangenen oder sehr zukünftigen Architektur. In zwei Monaten sollen sie 80 Prozent ihres Gewichts verloren haben, sollen durch ideale Wetterbedingungen - die richtige Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Regen, Windrichtung - schön verpackt in Kartons zum norwegischen Spitzenexportprodukt werden. Wehe, wenn der Frühling zu früh einsetzt wie heuer. Dann könnten ver- frühte Wärme, Fliegen und Fäulnis die Ernte eines Jahres bedrohen. Dann könnte es so richtig zum Himmel stinken. Aber der verfrühte Frühling ist nicht allzu warm.

Auch wenn alle Wetterdaten im Normbereich liegen, weht in der lofotischen Luft ein zarter Schleier von Eau de Dorsch. Man sollte Fisch ein bisschen mögen, wenn man die Route nach Norden ins Auge fasst. Aber Naturhasser kommen sowieso nicht. Hier sind die steilen Felshänge, die die Fjorde bilden, das Gekeife der Dreizeh-Möwen, die Beutezüge der Orcas, das Polarlicht, die Begegnung mit einem Elch, eine Tour mit dem Hundeschlitten die Attraktionen. Oder das Dorschfischen. Und zwar am besten Ende März. Zu dieser Zeit kommt der Dorsch schippelweise aus der Barentsee um in den - relativ - warmen Gewässern entlang der lofotischen Küsten zu laichen. Warm, nun ja, rund acht Grad. Weil der Golfstrom hier fließt und den Dorschen eine kuschelige Kinderstube bereitet und nebenbei die norwegische Küste eisfrei hält.

Das Dorschfischen auf sportliche Art hat nichts mit Schleppnetz, Angelrute oder Hochseefischen à la Hemingway zu tun. Der Fischer (gute Seemannsbeine und starker Magen sind Voraussetzung) lehnt recht lässig an der Reling und lässt von einer dicken Spule einen beschwerten Faden in die Tiefe. Wenn was beißt, spürt's der Fischer im Handgelenk und zieht mit straffer Kurbel den Fang an Bord. Viele kleinere Fischerboote liegen vor der Küste von Svolvær (auch Austragungsort der Dorschfischer-WM) in Sichtweite zueinander. Dadurch weiß jeder, was der Nachbar gefangen hat - Zunder für ein stummes archaisches Duell der Männlichkeit.

Aber oh weh, der Dorsch kommt nicht mehr, wie man das gewohnt ist, so erschallt die Klage an jedem Ort der Lofoten-Küste. Früher hätten 30.000 Leute zur Zeit des Winterfangs hier an der Küste gearbeitet, heute sind es 1500. Der Staat zahlt den Fischern Prämien für das Abwracken ihrer Boote. Zu wenig Dorsch. Der Klimawandel kommt als Ursache gelegen. Man mag es angesichts des verfrühten Frühlings glauben. Die Wissenschaft sieht keine Kausalität. Der aktuelle Temperaturanstieg liegt im Normbereich. Jahrelange Überfischung ist ein plausiblerer Grund. Käpt'n Iglo statt Klima. Aufs Klima schiebt auch Steinar Larsen die Fischmisere. Er betreibt das Stockfischmuseum im einbuchstäbigen Å. Das Museum war einst der größte Fischumschlagplatz der ganzen Gegend und gehörte Vater Larsen. Die Fischer brachten ihren Fang in den innen weiß und außen rostrot gestrichenen Holzbau direkt an der Felsenküste, die Großhändler nahmen ihn ab, legten ihn auf Eis und verkauften sogar bis zum Londoner Fischmarkt Billingsgate. Der Rest ging in die Stockfischproduktion. Und Steinar Larsen konserviert Stockfischwissen: Techniken, Geräte zur Bearbeitung, Exportquoten im Wandel der Zeit. Er lässt stolz 15 Jahre alten Stockfisch verkosten, erzählt begeistert vom geschmacklichen Raffinement eines Gerichts namens Lutefisk, das aus mehrmals gewässertem Stockfisch besteht, der, durch die Behandlung mit Natronlauge zum Gelee verändert, von den Norwegern zu Weihnachten gegessen wird.

Die Nostalgie schwingt immer mit. "Als ich ein Bub war, hatte mein Vater zwei Schleppnetze. So viel Fisch, so viel." Und jetzt, kein Fisch, aber Touristen. Der Kustos scheint mit der Rolle des Hüters des Stockfischwissens nicht unzufrieden. Denn immerhin mache man hier immer noch ein international renommiertes Qualitätsprodukt, das in seiner besten Qualität nach Italien (Stoccafisso für die Cucina italiana), dann nach Portugal (Bacalhau), an dritter Stelle in seiner niedrigsten Qualitätsstufe nach Afrika exportiert werde. Noch eine Qualitätsstufe darunter: die Dorschköpfe. Sie trockne man extra für die Afrikaner, weil die machen eine g'schmackige Suppe draus. Der Stockfischprofessor sieht das praktisch.

Die afrikanische Vorliebe für norwegischen Dorschkopf hat ihre Wurzel in der traurigen Tatsache, dass englische Plantagenbesitzer kräftigere Arbeiter brauchten, sie mit mehr Eiweiß versorgen mussten und den Stockfisch als haltbaren Proteinlieferanten einkauften. Dieser bekam dadurch einen Fixplatz im lokalen Kochtopf. Die betroffenen Staaten wurden eines Tages unabhängig, das englische Pfund war weg, die Devisen nichts wert, man musste sich nach unten anpassen. Ein doppelt und dreifach gezahlter Preis der Globalisierung.

Norwegen beliefert die Welt mittlerweile mit anderen Arten von Eiweiß. Die Fischzucht in den Fjorden und vor der Küste spielt eine große wirtschaftliche Rolle - auch diese unter ökologischen Gesichtspunkten und solchen der Nachhaltigkeit nicht unproblematisch.

Die außerordentlich hübschen Möwen auf den Holzplanken vor Steinar Larsens Museum stellen das Fressen fraglos über die Moral. Ihnen reicht das Angebot. Und wenn alle Stricke reißen, haben sie keine Hemmungen, sich am Stockfischgalgen hinterm Haus landeinwärts zu bedienen.

Der Fisch wird weniger, die Touristen werden mehr. Naturerlebnis, Nordlandmystik, das Unberührte, die Langsamkeit, die Unmöglichkeit, sich vom Eigentlichen ablenken zu lassen, die eigenartige Brechung des Lichts, das alles ins Märchenhafte überhöht. Wer die Küste entlangfährt, wird das zumeist mit den Linienschiffen der Hurtigruten tun, die gar nicht so hurtig sind, für mitteleuropäische Begriffe. Die großen Kreuzer, auf denen bis zu 500 Menschen Platz finden, wurden einst als Fracht- und Postschiffe zur Versorgung der nördlichen Küstenorte eingesetzt. Briefe bringen sie keine mehr - auch wenn sie noch unter der Postflagge segeln -, Fracht gelegentlich. Und wenn das Wetter im Winter den Flugzeugen das Landen zu schwierig macht, bringen die Hurtigruten-Schiffe das Nötigste. Zwischenzeitlich bringen sie Touristen, die's nicht hurtig wollen, sondern langsam die Felswände und die sanfteren Küstenabschnitte mit den typischen bunten, zumeist roten Fischerholzhütten an sich vorbeiziehen lassen, sich dabei die Geschichten vom deutschen Kaiser erzählen lassen, der die deutsche Nordland-Euphorie mit einer Reise in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfand, oder von der Härte der Menschen, die hier den schwierigsten Bedingungen trotzten und dem kargen Boden und der rauen See ihren Lebensunterhalt abtrotzten. Von den ganz armen Fischern, die bei 40 Grad unter null unterm Boot am Strand übernachten mussten, von Schiffbrüchigen, die nach Stunden in der fast arktischen Nacht, mit Eis bedeckt, noch gerettet werden konnten.

Die bittere Armut gibt es nicht mehr. Norwegen freut sich über famose Wirtschaftsdaten, ein nahezu konkurrenzloses Sozialsystem und klagt höchstens über Arbeitskräftemangel. Der Dank gilt der Natur, die Norwegen mit Ölvorkommen im Meer bedacht hat. Auch vor der Küste der Lofoten lagert noch mehr von der guten fossilen Flüssigkeit.

Die Wildheit der Natur, die Klarheit der Luft, die Faszination der Mitternachtssonne und der dunklen Wochen des tiefen Winters, in denen der Schnee das Dämmerlicht zu einer träumerischen Schummrigkeit reflektiert, ist heute kein Grund zum Gehen, sondern zum Kommen. Etwa mit dem Hurtigruten-Kreuzer Kong Harald ab Tromsø (Polarlichtalarm!), zwischendurch eine Runde mit dem Hundeschlitten, dem Alaska-Huskies vorgespannt sind, vielleicht aussteigen in Henningsvaer, auf einen Kaffee und/ oder irgendetwas mit Dorsch einkehren und dabei schauen, was die Fischer so vom Meer hereinbringen. Oder eine Kajaktour oder eine Kletterpartie, um dann beim nächsten Postschiffstopp wieder einzusteigen. (Bettina Stimeder/Der Standard/Rondo/20.4.2007)