Schild an der Tür zum Behandlungsraum der Ärztin aus dem neunerHAUSARZT-Team

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Einrichtung der Wohnungslosenhilfe Wien in der Schlachthausgasse - ARGE Nichtsesshaftenhilfe Wien

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Zwei Bewohner in der hauseigenen Kantine

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Kaffeetrinken bei Bewohner Walter Fleischmann

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In der Ordination

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Behandlungsbett bei der Hausärztin

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Bewohnerin Susanne Spenger

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Walter Löffler, neunerHAUSARZT und Medizinische Leitung

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Wohnbetreuerin Edith Kessler

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Garten im Hinterhof des Wohnhauses

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"Frau Doktor besucht uns jeden Donnerstag", ist auf einer Tür im obersten Stockwerk des Hauses Nummer 41a in der Schlachthausgasse zu lesen. Wöchentlich von acht bis 12.30 Uhr kommt eine Ärztin in das Haus der ARGE Nichtsesshaftenhilfe Wien und behandelt wohnungslose Menschen. Sie prüft nicht nur auf Herz und Nieren, sondern nimmt sich auch außergewöhnlich viel Zeit für die Menschen, die oft einen jahrzehntelangen Leidensweg hinter sich haben.

"Die Lebenssituation auf der Straße ist so belastend, dass der eigene Körper da oft zweitrangig wird. Sie schauen auf ihre Grundbedürnisse: wo sie ihr Essen bekommen, wo sie schlafen können und sie haben viele traumatische Erlebnisse hinter sich", erklärt Walter Löffler, neunerHAUSARZT und Medizinischer Leiter des Projekts, die Situation Wohnungsloser. Die vier ÄrztInnen des Projekts gehen auf ihre speziellen Bedürfnisse ein. Das Besondere daran: sie sind beim Verein neunerHAUS angestellt und betreuen verschiedene Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe in Wien.

Persönlich betreut

In der sonnendurchfluteten hauseigenen Kantine haben es sich zwei Bewohner gemütlich gemacht – ein Dekoherz hängt an der Wand und den Tisch schmückt eine karierte Tischdecke. "Manche Leute sind eher kontaktscheu und trauen sich gar nicht zum Arzt, aber hier ist es wie daheim. Ich habe meine Befunde jetzt verstanden, die Frau Doktor hat sie mir erklärt. Auch weniger Fleisch soll ich essen, dafür viel Karfiol", erzählt der 66-jährige Georg Kitzbichler.

Er wohnt schon seit fünf Jahren in der Schlachthausgasse. "Ich habe das Gefühl, dass Frau Doktor Vlasich sich wirklich um mich kümmert und sie vergleicht auch ob sich die Medikamente mit anderen vertragen. Sie ist wie eine Mutter zu uns und 'keppelt' auch wie eine." Johann Beck pflichtet seinem Nachbar bei: "Man kann über alles sprechen und auch gut Schmäh führen."

Aufsuchende Arbeit

"Wenn man auf der Straße lebt, gibt es keine schützenden vier Wände, das ist extrem belastend. Daher gibt es viele Alltagssituationen, die die Menschen nicht aushalten. Für viele ist es schlimm, sich anzustellen oder in einem Warteraum zu warten, das ist Stress pur. Auch die Bürokratie auf den Ämtern ist eine Katastrophe für sie", erklärt Wohnbetreuerin Edith Kessler.

"Wenn sie zu einem Arzt außerhalb gehen müssen, werden sie oft nicht gut behandelt und auf ihre Adresse reduziert. Gerade der Vertrauensaufbau ist die Basis der aufsuchenden Ärztearbeit: "Deshalb ist eine ganz enge Kooperation mit den MitarbeiterInnen des Hauses extrem wichtig", erklärt neunerHAUSARZT Walter Löffler.

Vertrauen fassen

Geht man einige Stockwerke tiefer, trifft man auf ein kunstvoll gestaltetes Türschild. Es gehört zur kleinen Wohnung von Walter Fleischmann – der ehemalige Installateur geht jede Woche zur Ärztin. "Morgen ist sie eh wieder da, oft kommt sie gar nicht dazu, einen Kaffee zu trinken, weil es hier sehr viele kranke Leute gibt. Immer fragt sie wie es mir geht und nimmt sich Zeit für mich." Auch er fühlt sich gut betreut: "Das Vertrauen muss passen, ich muss mich auf den Arzt verlassen können, bei ihr ist das leicht", erklärt er.

Zusammenarbeit

Ganz besonders gut funktioniere die Zusammenarbeit mit Frau Kessler, erklärt Löffler. Sie weiß über alle BewohnerInnen und ihre Gesundheit Bescheid und auch "was man wo wann einreichen muss". Sie misst zwischendurch den Blutdruck und wenn die Menschen auch nur zum Plaudern kommen: "Mir ist das Wohlbefinden der Leute wichtig und habe hier die Vertrauensbasis. Ich lasse sie auch in Ruhe, wenn einer sagt 'Ich will nicht, halten Sie mir die Frau Doktor vom Leib', außer es ist lebensgefährlich." Die BewohnerInnen kommen zuerst zu ihr, wenn sie Schmerzen oder Probleme haben.

Zuckerkrank auf der Straße

Unter den Hausbewohnern lebt auch die 61-jährige Susanne Spenger. Sie ist zuckerkrank und hat mit ihrer Krankheit jahrelang auf der Straße gelebt: "Mit 50 habe ich zum ersten Mal erfahren, dass ich zuckerkrank bin als ich in der 'Gruft' zusammengebrochen bin. Da ist die Welt für mich zusammengebrochen. Ich habe am Südbahnhof am Bankerl im Warteraum geschlafen. Mein Freund ist mit 50 gestorben, er hat nur mehr getrunken. Das Straßenleben war sehr sehr schlimm. Man kann nie richtig schlafen", erzählt sie einen kleinen Teil aus ihrer Lebensgeschichte. Beim neunerHAUSARZT fühlt sie sich wohl: "Ich gehe immer hin um nach dem Zucker zu schauen und gehe zu keinem anderen Arzt. Manchmal muss ich aber naschen, da kann ich nicht nein sagen."

Menschliche Erfolge mit Zukunft

Immer wieder hat das Team rund um den neunerHAUSARZT Erfolge zu verbuchen: "Es ist eine Politik der kleinen Schritte", erzählt Kessler. Eine 54-jährige Frau habe seit längerer Zeit mit dem Trinken aufgehört. Ein Mann mit einer multiplen Persönlichkeitsstörung hält seine Termine mit einem Psychiater im AKH ein. "Das ist ein Riesenerfolg", freut sich die Sozialarbeiterin.

Einer der Patienten von Walter Löffler kommt mittlerweile nicht mehr zur Sprechstunde. Mit gutem Grund: Nach Jahren in einer Einrichtung der Wohnungslosenhilfe und mehreren schwereren Krankheiten ist er gesund und hat erstmals nach einer eigenen Wohnung angefragt. "Erst wenn die Menschen von ihren Krankheiten befreit sind, können sie eigene Wege gehen und ein selbst bestimmtes Leben führen", betont der neunerHAUSARZT den Sinn hinter dem Projekt. (Von Marietta Türk, derStandard.at, 18.4.2007)