STANDARD: In Frankreich predigen alle Kandidaten den Aufbruch. Es ist offensichtlich, in Frankreich bewegt sich etwas. Aber was eigentlich?
Bourlanges: Frankreich hat in der Tat ein Bedürfnis nach Verjüngung. Die Präsidentschaftskandidaten, traditionellerweise über 60 Jahre alt, sind jetzt gerade noch etwas über 50; dazu hat erstmals eine Frau ernsthafte Chancen. Dies zeigt, wie ungeduldig die Franzosen sind, mit den bisherigen Politapparaten, die Frankreich in den letzten 25 Jahren gelähmt haben, aufzuräumen.
STANDARD: Frankreich ist reif für Reformen. Aber sind die Franzosen bereit dazu?
Bourlanges: Frankreich leidet seit Jahrzehnten – wenn nicht länger – an der Vorherrschaft des Staates über die Zivilgesellschaft, das heißt an der Herrschaft seiner Spitzenfunktionäre über die Politik. Diese Dominanz hat ideologische Folgen: Die Franzosen sind äußerst allergisch auf den Liberalismus, die Martkwirtschaft und die Globalisisierung, das heißt auf die Öffnung gegenüber der Welt. Die zentrale Frage dieser Wahlen lautet in der Tat, ob sich die Franzosen an die neuen Realitäten anpassen wollen.
STANDARD: Und wie ist es mit den Kandidaten?
Bourlanges: Sie haben alle einen Willen zum Wechsel, ja zum Bruch, aber letztlich halten sie an der Vergangenheit fest. Während der Kampagne kam es zu haarsträubenden Initiativen und die Rückbesinnung auf traditionelle Positionen. Die Hauptkandidaten waren gezwungen, auf die Wählerschaft und deren Ängste Rücksicht zu nehmen.
STANDARD: Das gilt namentlich für Sarkozy, der heute nicht mehr von einem wirtschaftlichen „Bruch“ spricht.
Bourlanges: Sarkozy hat seine Botschaft im Verlauf dieser Kampagne weit gehend verwässert. Vor einigen Monaten war er für eine eher harte Liberalisierung der Wirtschaft; heute erweckt er den Eindruck, fast so pragmatisch wie Jacques Chirac zu sein. Sarkozys Wahlprogramm ist äußert kostspielig, was mit der Forderung nach Budgetdisziplin nicht vereinbar ist. Er greift die Europäische Zentralbank (EZB) an, worin er plötzlich wieder mit keynesianischen Positionen liebäugelt. Und indem er in Handelsfragen den „europäischen Vorrang“ predigt, schränkt er die Öffnung der französischen Wirtschaft auf die ganze Welt hin ein.
Was Bayrou betrifft, scheint der Slogan von der „Sechsten Republik“ etwas übertrieben. In Wirklichkeit heben die vorgeschlagenen Änderungen – eine teilweise Abkehr vom Mehrheitswahlrecht – die Fünfte Republik nicht grundsätzlich aus den Angeln. Denn die Wahl des Präsidenten würde weiterhin direkt durch das Volk erfolgen, und zudem behielte der Staatschef das Recht, die Nationalversammlung aufzulösen. Hingegen will Bayrou das bipolare Rechts-links-System aufbrechen. Das wäre völlig neu und würde helfen, den unerträglichen Archaismus der französischen Linken zu beseitigen.
STANDARD: Und Royal? Steht sie für diese archaische Linke?
Bourlanges: Royal hat zwar mit dem sozialistischen Establishment gebrochen: Sie griff die alte Garde des Parteiapparates an und redete einem „Blairismus à la Française“ das Wort. Seit ihrer Nominierung ist Royal aber wieder zurückgekrebst: Sie übernahm das ganze Parteiprogramm und änderte damit ihren Wirtschaftskurs, indem sie neue soziale Ausgaben verspricht und die Europäische Zentralbank (EZB) attackiert.
STANDARD: Kopiert Royal nicht auch Mitterrand, so wie Sarkozy Züge von Chirac annimmt?