Die von der ungarischen Opposition erhoffte „revolutionäre Wende“ ist nach dem Nationalfeiertag am 15. März ausgeblieben. Die rechtsradikalen Störtruppen wurden diesmal – im Gegensatz zu den Unruhen im vergangenen Oktober – durch die Polizei mit Wasserkanonen und Tränengas relativ rasch zerstreut. Der Führer der nationalkonservativen Fidesz, Viktor Orbán, behauptete vor 200.000 Anhängern wieder einmal, dass das Volk das Recht habe, die „räuberische Lügenregierung“ zu verjagen, falls die von ihm geforderte Volksabstimmung gegen das radikale Sparprogramm der sozial-liberalen Regierung im Herbst einen Erfolg erziele.

Der Konfrontationskurs und die aufrührerische Rhetorik der Fidesz-Leute haben aber – abgesehen vom harten Kern ihrer Anhänger – die Massen nicht wirklich mobilisieren können. Regierungsfreundliche Kommentatoren sahen bereits den Umschwung zu einer längeren Periode der Konsolidierung voraus. Die politischen Ereignisse der letzten Tage haben allerdings diese Scheinstabilisierung schnell zerstört.

"Lügen-Rede"

Der seit der Veröffentlichung der (parteiinternen) „Lügen-Rede“ von Ministerpräsident Gyurcsány aus den Fugen geratene Kommunikations- und PR-Apparat der Regierung produziert sozusagen am laufenden Band sachliche und persönliche Peinlichkeiten. Vor einer Woche schied Gesundheitsminister Molnar, jener Mann, der für die umstrittene Reform des Spitals- und Versicherungssystems die Hauptverantwortung trug – ohne nähere Erklärung aus der Regierung aus. Er war einer der drei Minister, die der kleine Koalitionspartner, die Freien Demokraten, stellte.

Zugleich fand am Parteitag dieser liberalen Gruppe eine Wachablöse statt: Der angesehene Parteichef Gabor Kuncze (57) wurde nach einer Kampfabstimmung durch den 35-jährigen Wirtschaftsminister János Kóka ersetzt. Dieser trat erst vor knapp einem Jahr der Partei bei. Er absolvierte zwar die medizinische Fakultät, hat aber eine fulminante Karriere in der Computerbranche gemacht. Kóka gehört, wie übrigens auch Regierungschef Gyurcsány, zu den 100 reichsten Ungarn mit einem geschätzten Vermögen von drei Milliarden Forint (rund 12 Millionen Euro).

Tiefer Riss

Der abrupte Rücktritt des Gesundheitsministers spiegelt nach Presseinformationen einen tiefen Riss zwischen den Koalitionspartnern über die Teilprivatisierung der Krankenversicherung wider. Es dürfte demnächst eine Regierungsumbildung stattfinden. Bei den ersten zwei Wahlgängen nach der Wende 1990 und 1994 konnten die von mutigen Bürgerrechtsaktivisten geführten Liberalen noch über eine Million Stimmen gewinnen, seitdem hielt sich die inzwischen zerstrittene kleine Partei nur knapp über der Vier-Prozent-Grenze und verfügt nur über 20 Parlamentssitze. Ohne die Liberalen hätten aber die Sozialisten weder 2002 noch 2006 eine mehrheitsfähige Regierung bilden können.

Trotz seinen einstigen lukrativen Verbindungen zu den postkommunistischen Seilschaften ist Premier Gyurcsány der mit Abstand fähigste Vertreter der Modernisierung und der Westbindung in der Sozialistischen Partei. Er ist nach wie vor der Einzige, der mit seinen Führungsqualitäten dem machthungrigen Orbán Paroli bieten kann. Wenn es aber seiner Koalitionsregierung nicht gelingt, das so oft angekündigte wirtschafts- und sozialpolitische Reformprogramm zu realisieren, in den eigenen Reihen für Ordnung und Solidarität zu sorgen und durch richtige Kommunikation das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen, ist eine Rückkehr der Nationalpopulisten von Fidesz an die Macht unaufhaltsam. (Paul Lendvai, DER STANDARD, Printausgabe 12.4.2007)