"Wenn die Zweitsprache nicht auf das feste Fundament einer gut entwickelten Erstsprache aufsetzt, führen auch viele Stunden Deutschlernen zu schlechten Ergebnissen", fasst Hans-Jürgen Krumm vom Lehrstuhl Deutsch als Fremdsprache am Institut für Germanistik der Uni Wien die Erkenntnisse aus vielen Jahren Forschung und Praxis zusammen.

Erstsprache ersetzt den ideologisch vorbelasteten Begriff Muttersprache, wobei es auch mehrere geben kann. Kinder erwerben diese bis zum Alter von etwa vier Jahren ohne Unterricht von ihren Bezugspersonen. "Das hat nichts mit der Zahl der Sprachen, sondern mit dem Kontext zu tun", stellt Klaus- Börge Boeckmann klar, seit Februar Professor für Deutsch als Zweitsprache.

Bekannt aus Schule, Sprachferien oder Weiterbildung sind vielen Menschen Fremdsprachen. Verena Plutzar, Assistentin am Institut, erläutert den Unterschied zwischen Ferienvorbereitung und Migrationsalltag: "Fremdsprachen lernen wir in einem geschützten Umfeld mit Lehrwerk oder Lehrer/Lehrerin", der Kontakt reduziert sich auf eine gesteuerte Lernsituation. "Zweitsprachen sind existenziell für das Überleben", so Plutzar. Inputs aus der Umgebung, in Arbeit oder U-Bahn, müssen nach Regeln durchsucht und entschlüsselt werden, damit man sich verständlich machen und verstehen kann.

Die Migrationsbewegungen haben sich seit der Anwerbung von Gastarbeitern in den 1960ern erheblich verändert. Menschen kommen aus vielen Gründen und Gegenden nach Österreich, auf der Flucht genauso wie aus Liebe. Dennoch verfolgt die Politik für alle "ein Vorglühmodell: 300 Stunden Deutsch laut Integrationsvereinbarung oder ein verpflichtendes Vorschuljahr - und schon gibt es keine Probleme mehr", analysiert Boeckmann. Die Datenerhebung ist oft fehlerhaft, weil anpassungswillige Migranten unterdrückte Sprachen nicht angegeben oder im Formular zu wenig Platz ist.

"Auch der beste muttersprachliche Förderunterricht kann nicht fruchten, wenn er auf Türkisch statt etwa Kurdisch erfolgt und die Eltern miserabel Deutsch sprechen, wenn sie ihren Kindern helfen", so der Germanist. In den Klassen sitzen Kinder aus acht oder mehr Sprachgruppen. "In der Forschung zu dieser komplexen Mehrsprachigkeit konzentriere ich mich darauf, zu untermauern, dass die Erstsprache gefördert werden muss, auch wenn es intuitiv komisch wirkt." Die Debatte schwappt aus Deutschland nach Österreich über, wo etwa ein Soziologe aus Mannheim Gegenteiliges mit Studien aus den USA und Kanada zu belegen versucht, mit einem "eher holzschnittartigen Verständnis von Spracherwerb", betont Boeckmann. Erkenntnisse der differenzierten Untersuchungen fließen in die Lehre ein, in Fortbildungskurse für Lehrer/Lehrerinnen und die Beratung von Institutionen und Politik.

Den Sprachschatz kann nur heben, wer den Wert mitgebrachter Sprachen anerkennt und vermittelt, wozu Deutsch überhaupt gelernt werden soll. "Content Language Integrated Learning" (CLIL) ist in Unterrichtsprojekten der EU bereits Standard, denn weder Kinder noch Erwachsene lernen Sprachen im luftleeren Raum. Wer eine Perspektive sieht, in einem Land zu leben, zu arbeiten oder zu wählen, ist auch motiviert.

Das Lehrpersonal in den verpflichtenden Deutschkursen verwaltet derzeit eine enorme Heterogenität: motivierte und unmotivierte, Arbeit suchende und Kinder betreuende Lernende, Hochschulabsolventen und solche, die nur vier Jahre in der Schule waren. "Das Allheilmittel für Integration ist immer Deutsch - und das Mittel der Wahl der Deutschkurs", sagt Verena Plutzar. Für ihre Dissertation wird sie erheben, welche Rolle Deutschkurse für Sprache und Integration von erwachsenen Migranten gespielt haben, und so mögliche Alternativen aufzeigen.

Die Germanisten von der Uni Wien haben viele Vorschläge, wie Sprache und Integration auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse verbessert werden können. Ganz am Anfang steht mit Sicherheit ein klarer Aufenthaltsstatus und die genaue Erhebung der Sprachbiografie. In den Niederlanden gab es auf kommunaler Ebene lange Beratungsgespräche, in denen die Qualifikationen überprüft und eine individuelle Sprachlernberatung gegeben wurde. "Das hat nicht funktioniert weil die Migranten überbehütet waren. Man muss einen Mittelweg finden beim Fordern und die Eigeninitiative fördern", spricht Verena Plutzar aus Erfahrung im Integrationshaus Wien. Alternative Lernwege, abseits oder unterstützend zu Kursen, sieht ihr Kollege Boeckmann auch "im Park, in Müttergruppen, in der Gemeinde oder einem der zahlreichen Vereine in Österreich". "Die Studierenden rennen uns die Türen ein", formuliert Hans Jürgen Krumm den Bedarf für den neuen Lehrstuhl. Er kam 1993 aus Deutschland nach Wien, als vor dem Hintergrund der Ostöffnung der Lehrstuhl Deutsch als Fremdsprache eingerichtet wurde. "Ich schätze, dass 20 Prozent unserer Studenten selbst einen Migrationshintergrund haben", so Krumm. Die meisten Absolventen unterrichten Deutsch im Inland in Schule und Erwachsenenbildung. Den Exportartikel Deutsch vertreiben vergleichsweise wenige. (Astrid Kuffner/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28. 3. 2007)